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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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sind wir auf dem Schiff, Richtung Oslo. Hör mal, die Wellen.» Zwischendrin Fachsimpeleien der Orgelfreunde, die er mitschnitt, oder ein Gespräch mit dem Kapitän. Briefe für die Ohren – von Liverpool, San Francisco, Rom. Orgelmusik, Straßenbahngeräusche. Für mich hängte er ein Mikro aus dem Hotelfenster, damit ich New York bei Nacht hörte. New York oder Philadelphia? In einer verlassenen Dorfkirche in Südfrankreich ließ er mal eine halbe Stunde das Gerät mitlaufen, in allen Einzelheiten konnte ich mitverfolgen, wie er und ein Kollege sich zur Orgel durchkämpfen, «Spinnweben! Magdalena, das hast du noch nicht gesehen. Mann, hier liegt der Staub zentimeterhoch.» Am Ende hörte ich eine etwas verklemmte Orgel und den mächtig stolzen Lukas schnaufen: «Die hat aber lang keiner mehr gespielt.»
    Solange meine Neugier nicht aufhört, lebe ich. Würde mich ein Reporter fragen, wer ich bin, wäre die zutreffendste Antwort: Eine, die mit dem Hut herumgeht und sagt: «bitte, einen Schlag Welt! Noch einen Schlag Welt, bitte!» Nach dem Brandunfall damals ist dies Verlangen noch heftiger geworden.
    Ende 1976, kurz vor den Feiertagen, kehrte ich nach Sonnenmatt zurück. Noch lange waren die Narben sehr empfindlich. Hosen, Röcke, alles scheuerte, schmerzte. Am besten ertrug ich diese dünnen indischen Baumwollstoffe, jahrelang bin ich in bodenlangen, weiten Hippiekleidern herumgelaufen. Im Dorf machten sie lange Hälse. Wie kann eine Lehrersfrau von Mitte vierzig sich bloß so anziehen? Es kümmerte mich nicht, ich fühlte mich nach alldem wirklich frei.
    Zu Weihnachten oder kurz danach kriegte Lukas einen Fotoapparat. Zur Hälfte bezahlte er ihn selbst, von seinem Lohn für Orgeldienste, die andere Hälfte schoss Konrad zu. Tausend Mark ungefähr kostete die ganze Ausrüstung, Spiegelreflexkamera, Stativ, Blitz, der nackte Wahnsinn und genau richtig für ihn. Sein Orgellehrer, der auch gern fotografierte, hatte ihn dazu ermutigt. Zunächst ging es dabei vor allem um Orgeln, darum, sie in ihrer ganzen Größe und in bestimmten Ausschnitten, die er gern näher studieren wollte, abzubilden im Postkartenformat. Der alte Zigarettenbildertrick, der mir als Kind so viel geholfen hat, nur dass Lukas seine Bilder selbst herstellte. Unter Anleitung seines Lehrers experimentierte er mit Schärfe, Blende, Filtern. Bei großen Objekten wie Kirchen hielt er beim Einrichten des Bildes zusätzlich das Monokular vor die Optik. Nur statische Dinge kamen als Motiv in Frage, keine beweglichen. Im Frühjahr hab ich gesehen, wie er im Garten mehrere Tage immer wieder um eine persische Lilie herumgeschlichen ist. Er beobachtete das Licht und fotografierte sie in verschiedenen Stimmungen.
    Ich konnte nun wieder an Konrads Arbeit teilnehmen, an den neuen Herausforderungen, die ihm das Schulamt vor die Füße legte. «Herr Weingartner, Sie sind mit den Legasthenikern fertiggeworden, Sie werden das auch mit den Türken schaffen.» Förderkurse sollte er geben – für Türken, Griechen, Libanesen, Kinder zwischen sechs und fünfzehn, die meistens kein Wort Deutsch sprachen. Am ersten Tag hat er ein altgriechisches Wort an die Tafel geschrieben, mit einem Fragezeichen dahinter. «Wer kann das lesen?» Ein älteres Mädchen meldete sich: «Ökumene.» Da wusste er, aha, eine Griechin. Er malte ein Haus und schrieb «Haus» darunter, bald stand das Wort in fünf Sprachen an der Tafel. So wurstelte Konrad sich von einer Stunde zur anderen durch, ohne die vom Kultusministerium gelieferten Bücher für den Ausländerunterricht. «Damit kann man nicht schaffen!» Dafür waren die Schüler viel zu verschieden, da war alles dabei, zwölfjährige Analphabeten aus Kappadokien, Superschüler aus Beirut, die Konrad Löcher in den Bauch fragten, was die Reformation ist oder warum es zwei Deutschlands gibt.
    Konrad schleppte die alten Kinderbücher von Lukas mit in die Schule. Sie spielten «Mensch-ärgere-Dich-nicht», Steine setzen, zählen «eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs». Besser ging es, nachdem er die Gruppe geteilt hatte, die Kleinen kamen zu mir, die Großen blieben bei ihm, nach einer Stunde Wechsel. Oder wir teilten nach Geschlechtern, Konrad ist mit den Buben durch die Reben marschiert, derweil ich mit den Mädle die «Burda» oder die «Bravo» angeguckt habe. Sie begannen zu erzählen, allmählich tauten sogar die Schweigsamsten auf. Bikinis war ein wichtiges Thema, «die dürfen wir nicht tragen», ein anderes die strengen

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