Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
bemerkbar, wenn auch nicht so intensiv und leuchtend wie früher – das Tulpenfeld blasser, die besonnte Wiese wie mit einem Schleier überworfen.
Wo ist das Gelb? Gelb, meine liebste Farbe, ist mir untreu geworden, auch das Gold. Aber selbst wenn mein Auge die Osterglocken am Rande der Terrasse nicht aufstöbert, im Kopf ist es trotzdem da, in allen Nuancen. Ich habe nie aufgehört, in Farben zu denken, darauf zu achten, wie sie zueinander stehen, ob sie harmonieren. Nach wie vor würde ich Rotkraut nie in eine rote Schüssel füllen. Welches Kleid passt zu welcher Kette, zu welchen Schuhen?, überlege ich jeden Morgen, genau wie früher. Das grüne, durchgeknöpfte aus Bourette? Es im Schrank zu finden ist keine große Affäre, ich muss nur mit der Hand die Abteilung der Alltagskleider durchgehen, ihre Stoffe befühlen – Bourette fühlt sich warm an wie alle Seiden und hat eine unregelmäßige, leicht noppige Struktur: ein Kleid aus den neunziger Jahren, als ich die Farben noch hatte, Grün mit viel Braun und Schwarz drin, das ich mal «Gießkanne in Trauer» getauft habe.
Ein ganz klein wenig Sehen ist jetzt noch übrig. In jedem Frühjahr, wenn das Wiesengrün so richtig knallig ist, mache ich einen Test an einer bestimmten Stelle, am Dorfrand von Sonnenmatt. Da ist ein Sandweg, der eine Wiese durchteilt. Am besten geht es gegen vier Uhr nachmittags, bei Seitenlicht. Kann ich den hellgelben Sandweg vom Grün unterscheiden? Mit den Füßen ertaste ich den Übergang der beiden Zonen und richte mein linkes Auge dorthin, wo die Grenze zwischen Weg und Wiese verläuft. In diesem Jahr war es rechts ein wenig heller, das heißt, ich sehe noch.
Große Angst habe ich davor, dass sich durch das Nicht-Sehen, indem ich nichts mehr anschaue, mein Gesicht verändert. Ab und zu frage ich Konrad: «Wie ist mein Gesicht?» Ich muss wissen, ob es noch lebendig ist oder ob es sich verschließt.
«Hab ich schon dieses verlassene Gesicht?»
«Nein, alles in Ordnung.»
Konrad hat mir mal beschrieben, wie die Gesichter mancher Blinder aussehen. Sie seien «in sich gekehrt», beinahe ohne jede Mimik. Ich glaube zu wissen, was er meint. In meiner Marburger Zeit, beim Tanzkurs, bin ich einem vollblinden Kameraden mal so nahe gekommen, dass ich sein Auge und ein Stück Wange betrachten konnte. So ein verlassenes Gesicht will ich nicht haben, dachte ich damals.
«Konrad, bin ich wirklich so wie früher?»
«Ja.»
«Wirklich?»
Immer noch gibt es Tage, da bin ich besessen vom Sehen. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang habe ich gesehen, etwas davon muss doch noch da sein! Ein Stück Himmelsblau, es könnte ein Lichtfleck auf dem Steintisch sein. Ich mache regelrecht Jagd im Garten, durchforste die vertrauten Areale. Letzten Sommer war ich total verblüfft, ich sah vor mir etwas blitzen, ganz kurz erschienen die Farben des Spektrums von Dunkelblau bis Purpurrot, wie ein kleiner zittriger Regenbogen. Zack, war er weg, und zack, wieder da, erst beim dritten oder vierten Auftauchen wusste ich, was ich vor mir hatte. Es war eine dieser glänzenden Computer-CDs, die Konrad zur Abwehr der Vögel in die Reben hängt. Sie bewegen sich lebhaft im Wind, und wenn ein Lichtstrahl darauf trifft, dann entsteht für einen Augenblick dieses Farbenspiel.
Ich brauche das Sehen so sehr, auch als Ablenkung vom Grübeln. Den Kopfwelten zu entrinnen, diesem Toben da drinnen, wird mit dem Alter schwieriger. Sehende können das leichter, sie müssen nur einen Vogel anschauen, oder den Liebsten, und der Spuk ist unterbrochen. Früher hab ich mich häufig befreien können, indem ich jemandem etwas erzählte oder mir etwas erzählen ließ. Doch das ist heute kaum noch zu haben, das Zuhören wie das Erzählen. Selbst die Wörter werden weniger. Laufen ist laufen, es gibt nicht mehr rennen, springen, marschieren, stürmen, hetzen, all die vielen Ausdrücke. Und wenn ich mich ausmäre mit meinen Wörtern, denken die anderen, was für eine geschwätzige Alte. Und wenn die anderen so einsilbig oder zerstreut antworten oder auch gar nicht, rede ich noch mehr, weil ich unsicher bin, ob ich mich verständlich gemacht habe oder nicht, oder ob dieser Jemand, der zuhört, möglicherweise nicht schon längst heimlich verschwunden ist und ich ins Leere rede. Manchmal schäme ich mich, dass ich so bin, und komme mir vor wie ein plärrendes altes Radio, das man in der Wüste abgestellt hat.
Am besten versteht Lukas meine Bedürfnisse. Ein Tag mit Lukas ist wie ein
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