Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
unterbrochene Studium einfädeln können, soweit es ging, ins normale Leben zurück. Arme Kerle, für sie war Blindsein Neuland, das totale Unglück. Ganz anders als für mich. Für mich war die Einschränkung ein alter Hut – ein Zustand, den muss man aushalten, da muss man eben andere Wege gehen.
Im Frühsommer fing ich an, die Umgebung zu erkunden. Zunächst den Park mit den alten Bäumen, gleich hinter dem Schulhof begann die große Wiese. Am äußeren Rande befand sich ein Geißenstall, den der Gärtner unter sich hatte, ein freundlicher alter Bayer. Ich lief den Geißle nach, so kindlich war ich noch, und strich bei jeder Gelegenheit um die Beete herum. «Na, Schwäble?» Das «Schwäble» verzieh ich dem Gärtner, eigentlich war ich ja Badenerin. Denn er duldete mich im Nutzgarten, er hatte sofort gemerkt, dass ich mich darin zu bewegen wusste.
«Was klaust du mir wieder heute Nacht, Schwäble?»
«Die Erdbeeren sind reif.»
«Na gut, aber treib es nicht zu wüst.»
Nachmittags lief ich in die Oberstadt. Bergig war dieses Marburg, sehr verwinkelt, zwischen den Gassen immer wieder Treppchen. Systematisch erweiterte ich meine Kenntnis, nach bewährter Methode. In der Wettergasse machte ich eine Ladentür nach der anderen auf, Bäcker, Metzger, Haushaltswaren, Nase reingesteckt und weiter.
Im Juni 1948 war die Währungsreform, zu dem Zeitpunkt war ich einigermaßen orientiert. Weil ich nicht bei den Eltern wohnte, kriegte ich wie die Erwachsenen 40 Mark. Phantastisch, was es plötzlich alles gab! «Guck mal, die hat Kochtöpf, vor acht Tagen hat sie noch keinen gehabt!» So ging das. «Schuh kann man kaufen!» Die Leute sind auf dem Ketzerbach auf und ab gelaufen, und ich mit. Stopfgarn hab ich gekauft, das war toll, ich hatte meine Strümpfe schon mit Schwarz stopfen müssen. Und ein ganzes Pfund Presskopf, endlich mal genug Fleisch essen, und dazu einen kleinen, festen Laib Weißbrot. Und ein Kugelväsle aus Glas mit Blümchen drauf, und noch etwas, ich glaube, es war Seife. Den Rest des Geldes hab ich dann in den Sommerferien brav heimgebracht.
«Wer von euch kommt mit zum Jahrmarkt?» Ein Mädle meinte er natürlich, dieser junge Mann aus Hamburg, der in unserer Schule zu Besuch war. «Aber es muss sehen können.»
Ich sage: «So viel seh ich noch.»
«Du musst mich nur zur Achterbahn führen. Geld hab ich genug.»
«Au, ich fahr auch so gern.»
Wir aßen sauren Hering und rosarotes Himbeereis, und dann noch eine Runde Achterbahn. Ihm war ein wenig schlecht, mir nicht. «Das Schwäble ist absolut kotzfest», sagte der Hamburger bewundernd. «Sie braucht nicht kotzen, ein tolles Mädchen. Schade, dass sie so jung ist.» Max hieß er. Es war das erste Mal im Leben, dass ich ausgeführt worden bin.
Es sprach sich schnell herum: «Die Magdalena kann gut begleiten.» Ich tat es gern, immer öfter, damit hörte auch das Spotten auf. Vor allem die kriegsblinden Burschen wollten raus in die Wirtschaft, Bier trinken. Oder Jazz hören, richtigen amerikanischen Jazz, von Soldaten. «Das ist ein Ding!» war damals das stehende Wort für Neues. Immer andere saßen am Klavier, fast immer Schwarze, spielten oder spielten und sangen, nichts Perfektes, einfach so. Ich war gefressen von der Musik. Wenn die Stimme sagen darf, was sie fühlt. «Nobody knows you, when you are down and out.» Ich glaubte den Text zu verstehen, das waren Schmerzenslieder. Sogenannter «Blues». Später wurde er meine große Liebe, Louis Armstrong vor allem, Miles Davis. Seit Marburg weiß ich, dass Singen noch etwas anderes sein kann als «Guter Mond, du gehst so stille», Oper und Choral. Etwas Ungeordnetes, Animalisches. Noch heute sing ich manchmal, wenn ich allein zu Hause bin, wie die Schwarzen in Marburg – alles raus, was mir wehtut.
«Hallo, baby», begrüßten sie mich, «come on, baby», lässig, und als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, dass ein Mädchen mit Zöpfen einen ganzen Trupp Männer in den Jazzkeller führt. Manchmal wurde ich müde von der Musik und dem Zigarettenqualm, legte mich auf eine leere Bank und schlief. Oft war Mitternacht vorbei, bis die Kameraden bereit waren, sich von mir heimgeleiten zu lassen. Als Führhund hatte ich, halboffiziell, einen Hausschlüssel. Die Diakonissen konnten ja schlecht selber mitgehen und andererseits den volljährigen Männern den Ausgang nicht verbieten. Von den Zivilblinden über achtzehn waren meist etliche mit von der Partie, sie wohnten im selben Haus wie
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