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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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wir Mädchen. So angesäuselt wie sie waren, gingen sie lieber nicht durch die Pforte. «Ihr könnt doch klettern?» – «Klar, Magdalena!» Sie stiegen also auf den Balkon unseres Mädchenzimmers, ich öffnete die Tür von innen. Dann hab ich sie, barfuß, einen nach dem anderen, auf meinen Buckel geladen und durchs Zimmer getragen, damit man keine Schritte hörte. Sie waren nicht schwer, und ich war kräftig.
    Sonntagmorgens gegen zehn bin ich in die katholische Studentenmesse. Hab gefragt, wer geht noch mit in die Kirche. «Nö, du spinnst wohl.» Die meisten hier hatten keine religiöse Bindung mehr. Nur einer von den Kriegsblinden wollte meistens mit in die Stadt. «Zu Mutter Jansen!» Ich wusste nicht, wer sie ist, nur, dass sie in dem Haus mit den roten Vorhängen am Fenster wohnt. Mit der Zeit hab ich erfahren, dass dort ein «Bordell» war. Was ist das? So etwas Ähnliches wie ein Rondell?
    «Da gehen Männer hin.»
    «Ja, was machen die dort?»
    «Das weißt du nicht?»
    Wieder ging das Spotten los. Den jungen Mann habe ich nach der Kirche jedes Mal wieder abgeholt. Er war sehr guter Laune. Und ich dachte mir, wenn der so vergnügt ist, dann kann es nichts Böses sein. Trotzdem erschien es mir angebracht, darüber zu schweigen – Pauline, unsere Heimleiterin, musste das nicht erfahren.
    Einige der jungen Männer haben mir immer wieder ihr Herz ausgeschüttet. «Ach, Magdalena, Mädchen!» Anscheinend haben die ein Gefühl dafür gehabt, dass ich noch völlig natürlich war. Nicht verbittert und auch nicht übermäßig neugierig. Einer erzählte, er habe zwei Kinder, und er habe eine Frau gehabt. «Aber wo ich heimgekommen bin mit dem blauschwarzen Gesicht, beide Augen weg und ein Arm weg, da wollte sie mich nicht mehr.» Er muss in Russland direkt im Feuer gewesen sein, er hatte schwerste Verbrennungen.
    «Ja, wart ihr richtig verheiratet?»
    «Richtig, ja. Aber der Krieg, das verstehst du nicht.»
    Er hat mir die Hand auf den Kopf gelegt, ganz scheu. «Ach, was hast du für schöne Haare!»
    Solche Geschichten hörte ich viele, erst heute verstehe ich allmählich, was da auf mich gefallen ist, was für eine Last. Es bedrängt mich manchmal noch in Träumen. Ich bin damals wie durch einen tiefen Wald gelaufen, durch viele Gefahren – ahnungslos, blind.
    Das erste Marburger Jahr war gewaltig. Mit einem der Kriegsblinden habe ich mich bald näher angefreundet, er stammte, wie ich später erfuhr, aus einer jüdischen Familie. Wieder so ein Thema. Man sprach davon nicht, er auch nicht. Ich spürte nur, dieser Sechsundzwanzigjährige war ein Fremdling, ein Exot wie ich. Oft saßen wir im Raucherzimmer miteinander und haben uns unterhalten. Ich habe dort natürlich nicht geraucht, nur heimlich mal, eine oder zwei. Er hat mit mir Faltarbeiten gemacht, was für den erwachsenen Mann gewiss läppisch war. «Magdalena, du kommst. Wie schön!» Im Advent, meinem ersten hier, war ich furchtbar traurig. Kein Adventskranz, zwei Wochen vor Weihnachten immer noch nicht. «Komm, wir gehen für dich Tannenreiser holen.» Wir hatten kein Messer und gingen nur mit bloßen Händen bewaffnet in den Park. Er war groß und stark und hatte noch einen kleinen Sehrest. «Auf den Baum komm ich doch leicht hoch.» Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass die Äste erst in drei Meter Höhe anfangen. Es war eine ziemlich haarige Expedition, an deren Ende wir nicht viel in der Hand hatten, nur ein paar kleine wüste Zweige. Bei Tageslicht besehen zu wenig für einen Kranz. Schlimm war, dass wir zu spät zum Abendessen kamen. An ihn hat sich die Heimleiterin nicht rangetraut, ich wurde abgekanzelt.
    «Habt ihr euch wieder im Gras gewälzt?»
    «Es gibt doch im Winter gar kein Gras.»
    Ich zog mich oft zurück und las. In Marburg haben sie ein Amerikahaus gehabt, mit sehr schönen Büchern, gut gebunden, in klarem Druck. Viel moderne Literatur, den Hemingway habe ich dort kennengelernt und vor allen Dingen Ernst Wiechert. Wiecherts «Totenwald» war gerade erschienen. Die Erlebnisse dieses Johannes in Buchenwald waren so ungeheuerlich, dass es mich fast aus der Bahn geworfen hat. Wo ist Gott damals gewesen? Ich erinnere mich an die Stelle, wo Johannes, der im Konzentrationslager täglich Psalmen liest, fragt, «ob Gott nicht gestorben sei». Immer neue Bücher habe ich verschlungen. Und dabei ist meine ganze Kindheit aufgetaucht. Sätze wie: «Ja, den haben sie geholt. Der ist verzogen.» Wo sind die jüdischen Kinder aus der

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