Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
umspannt, um den Hals herum weiße Spitze. Darüber ein schon mehrfach angesetzter Mantel aus Uniformstoff. Wie eine Lumpenprinzessin muss ich ausgesehen haben. Mein Gesichtsausdruck? Fröhlich, würde ich sagen, erwartungsvoll.
Meine Mutter begleitete mich auf der langen Bahnreise. Eine Grenze war zu überqueren, von der französischen in die anglo-amerikanische Zone. Am späten Nachmittag, kaum hatten wir unseren Fuß in die Stadt gesetzt, schrie Mutter:
«Mein Gott, alles unzerstört. Magdalena, schau.»
Mir war ausnahmsweise nicht nach Entdecken zumute, ich wollte schnell dorthin, wo ich hinmusste. Am Rande der Altstadt war es, ein großes altes Gebäude. Man führte mich in ein Zimmer, das ich mit drei Mädchen teilen sollte. Ein Bett und ein Nachttisch, eine Kommode mit drei Schubladen – das war meins. Kein Bild, kein Deckle, nirgends ein Lämple. Zur Begrüßung wurde mir die Hausordnung runtergebetet. Diakonissen hießen die Klosterfrauen, die hier das Regiment führten, sie erschienen mir strenger als jede Nonne, die ich bisher gekannt hatte.
Mutter verließ mich nach zwei Tagen. «Sei brav, Magdalena.» Jetzt würde ich wahrscheinlich erst einmal unter Einsamkeit leiden, dachte ich. Welch ein Irrtum! Wir waren zu fünfzig, zu hundert, in dem großen Speisesaal noch mehr. Ich aß, schlief, lernte, betete mit vielen anderen, nicht eine Minute war ich für mich. Das war zu Anfang das Schwerste für mich, schlimmer noch als das Heimweh. Ich sehnte mich danach, allein zu sein, nachts phantasierte ich mich in die Einsamkeit der Almen und auf den Turm des Freiburger Münsters.
Es war eine gemischte Schule, Buben und Mädle zusammen, «Koedukation» nannten sie es. Das war im Prinzip sehr interessant, auch für mich, die jüngste Schülerin. «Es darf nicht zum Beischlaf führen», ermahnten uns die Diakonissenschwestern täglich. «Beischlaf?» In den ersten Wochen verstand ich diesen Satz überhaupt nicht. Aus vielen Gründen fühlte ich mich hier fremd. Ich war katholisch, die meisten hier evangelisch. Bis dahin hatte ich nur Mundart gesprochen, überall, wo ich hingekommen war, hatte man mich selbstverständlich verstanden. Zum ersten Mal wurde ich nun deswegen verspottet.
«Du kommst aus Süddeutschland. Was macht ihr da unten denn?», hieß es, oder: «Ihr seid ja sowieso nicht zivilisiert.»
Wenige hier waren aus dem Süden. Es gab Schüler aus Berlin und aus der norddeutschen Tiefebene, aus dem Harz, erinnere ich mich, eine Erdmute mit Bernsteinkette aus der Gegend von Königsberg. Viele schicke Mädchen, die richtige Faltenröcke trugen und weiche Pullover. Und alles Blinde! Blinde und hochgradig Sehbehinderte, solche Jugendlichen kannte ich überhaupt nicht. Sie hatten ihre Schulzeit auf Blindenschulen verbracht, bevor sie nach Marburg ins Aufbaugymnasium kamen, das mit der Untertertia begann. Internatszöglinge seit ewig, gelernte Stubenhocker, einige waren schon mit sechs Jahren im Heim gewesen. Alles, was sie davon erzählten, erschien mir fürchterlich. Was für ein eingesperrtes, langweiliges Leben!
«Von welcher Blindenschule kommst du?»
«Von keiner. Von zu Hause.» Für meine Mitschüler war ich eine totale Exotin.
«Wie viel siehst du noch?», war immer die wichtigste Frage.
«Och, eine ganze Menge», antwortete ich.
«Warum bist du dann hier, Magdalena?»
«Punktschrift lernen.» Etwas, was die anderen längst konnten. «Und wie viel siehst du?», fragte ich höflich zurück.
«Hell und dunkel», sagte das Mädchen. Und der Junge neben ihr: «Sechs Meter Schwarz.» Das war der Ausdruck für ganz und gar blind. Womöglich hatte der Junge, der das sagte, gar keine Augen mehr im Kopf. Blindheit, lernte ich jetzt, hat verschiedene Ursachen und verschiedene Grade, und ich gehörte zu den sogenannten «Sehrestlern». Heute gilt laut Gesetz derjenige als blind, der auf dem besseren Auge weniger als zwei Prozent Sehkraft hat. Dieser Definition nach bin ich damals wohl auf der Schwelle zum Blindsein gewesen.
Außer uns gab es noch die «War-Scheelen». «War», also Krieg, «scheel» für blind. Man hatte damals schreckliche Worte für manche Dinge, wahrscheinlich deswegen, weil man sie so besser aushalten konnte. Ungefähr ein Drittel der Internatsschüler waren Kriegsblinde, junge Männer zwischen zwanzig und dreißig. «Sie haben ihre Augen fürs Vaterland geopfert», deswegen hatten sie Vorfahrt an der Schule. Sie sollten unbedingt bis zum Abitur gebracht werden oder sich wieder ins
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