Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Pfeiffer-Schule geblieben? Das Evele, Jakob, die Anita aus der Angell-Schule? Tante Liesels schöne Sachen – sie gehörten Juden. Und in unserem Wohnzimmer steht eine Judencouch! In den Osterferien fragte ich meine Eltern. Wo wart ihr? Habt ihr denn nichts gemerkt? Sie schwiegen.
Mir blieben nur die Bücher. Bis in den Spanischen Bürgerkrieg drang ich vor, Hemingways «Wem die Stunde schlägt» gefiel mir besonders. Es gab also Menschen, die gekämpft haben. Wir besprachen das Buch in einer Gruppe von Schülern, auch einige Kriegsblinde waren dabei. Ich las vor. Tage vorher hatte ich das Buch in dem hellgrauen Pappendeckelgehäuse schon am Wickel gehabt, ich war gut vorbereitet. Auch die Liebesszenen hab ich ohne Schwierigkeiten über die Lippen gebracht. Ich wundere mich, wie ich das damals zusammengekriegt habe: Einerseits das unschuldige Kind, das ich war, andererseits konnte ich voll in dem Sprachgebrauch der Erwachsenen denken. Was die da machten in dem Schlafsack unter Spaniens Himmel? Hemingway hat mich angestiftet, mir endlich auch medizinische Auskünfte in Büchern zu suchen.
Man kann Kinder kriegen, wenn man einem Mann körperlich zu nahe kommt, so viel verstand ich. Eins kam allmählich zum anderen. Bemerkungen einer Primanerin, es ging um einen Jungen, den sie liebte.
«Hast du nicht Angst, ein Kind zu kriegen?», fragte ich sie.
«Bei mir macht das nichts. Ich krieg keine Kinder mehr.»
«Warum?»
«Ja, da haben die Nazis für gesorgt.»
Das war mehr, als ich fassen konnte. Monate vergingen, ein Jahr vielleicht und mehr. In meinem Kopf, der sonst mühelos zwei und zwei zusammenzählte, bauten sich immer neue Barrieren auf, bestimmte Informationen wollten einfach nicht zueinander kommen.
«Der hat was mit dem Hausmädchen.» Einer von den «War-Scheelen», wurde getuschelt, meine aufgeklärten Mitschülerinnen wussten alles. Abends auf dem Zimmer kolportierten sie, was sie auf den Korridoren gehört hatten. «Komm, lass mich mal ran. Du tust es doch auch mit Afrikanern.» Die, von der die Rede war, hatte ein schwarzes Kind. «Na, dann kriegt sie jetzt eben noch ein weißes», kicherte eine Primanerin. – «Ist das Kind dann blind?», fragte eine der Jüngeren. «Dummchen! Natürlich nicht. Die War-Scheelen können nichts vererben, die sind ja von Natur aus gesund.»
Lange und heftig sträubte ich mich gegen die Wahrheit: Die Nazis hatten blinde Kinder aus den Heimen geholt und sterilisiert, auch einige Mädchen von unserer Schule. «Erbkranke», wie man sagte, «vorsorglich unfruchtbar gemacht», damit sich die Blindheit nicht weiter vermehrt. Deswegen also haben mich Mutter und Vater und einige brave Leute unbedingt von der Blindenschule fernhalten wollen. Ich selbst hatte in großer Gefahr geschwebt, ich gehörte also auch zu den Entronnenen. Mir war elend.
Und was sollte nun aus mir werden? Natürlich wollte ich eines Tages Kinder und einen Mann, der Kinder will. Aber es könnte sein, dass sie blind zur Welt kämen, wusste ich jetzt.
Es lag ein Schatten über allem, über der Zukunft, über meiner Kindheit. Mina fiel mir wieder ein, die herrische, verrückte Mina vom Bildstein. Sehr wahrscheinlich ist sie in der Anstalt für Geisteskranke sterilisiert worden. Und sie und der Hofbauer Andres haben erst geheiratet, als die Hitlerzeit vorbei war. Vorher hätten sie es nicht dürfen.
Im Herbst, zum Jahreszeitenwechsel, verschlechterte sich mein Auge. Als hätte ich kleine Würmchen oder Härchen im Sichtfeld. «Glaskörpertrübung», sagte der Doktor, bei grauem Star käme das vor. Auf die Alarmmeldung hin kam meine Mutter, mich zu trösten und zu beruhigen. «Du bist doch tüchtig, Magdalena.» Auf dem Rückweg nahm sie einen schweren Koffer voll schmutziger Wäsche mit. Danach kriegte ich lange Zeit keine Post von zu Hause, besorgt rief ich schließlich an. «Ja, die Mutter hat Grippe.»
In den Weihnachtsferien, schon gegen Ende, fiel ich meiner Tante Regina in die Hände: «Weißt du eigentlich, was mit deiner Mutter los war? Grippe, Pustekuchen.» Sie lachte gehässig. «Sie hat nochmal eins auf die Welt bringen sollen. Else und Johann, die können ja nicht genug kriegen.» Mir hatte niemand etwas von Mutters Fehlgeburt erzählt. Warum hatte sie selbst es mir verschwiegen? Bei ihrem Besuch hatte ich das Bäuchlein nicht bemerkt, im vierten oder fünften Monat soll sie gewesen sein. Nach Marburg, «durch Marburg» wäre es passiert. In diesem Zusammenhang fiel ein fürchterlicher Satz,
Weitere Kostenlose Bücher