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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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Schlossberg Eichenlaub und Hagebuttenzweige herunter, weiße Knallbeeren, alles, was ich zu fassen kriegte.
    «Diesen Krautstrauß wirst du doch nicht auf den Sarg werfen!»
    «Doch! Ich muss Opa etwas mitbringen.»
    Am Grab betete ich, er möge mich vom Himmel aus ansehen. Vielleicht stünde er gerade direkt neben Judas Thaddäus, um ihm zu sagen: «Guck, das ist Magdalena, meine Enkelin, die mit den schlechten Augen. Wir passen nun beide auf sie auf, dass sie groß wird und brav bleibt.»
    Das pure Wunder, dass ich damals nicht den Boden unter den Füßen verloren habe. Die Eltern zankten sich täglich, vom Bett kriegte ich alles mit, was jenseits der immer noch kaputten Mauer geschah. Abends spät wuschen sie sich in der Küche. Vater klopfte Mutter dann kräftig auf den Popo.
    «Lass mich doch in Ruh!»
    «Komm, Else. Komm.»
    «Hurenbub, du.»
    Was da gewesen sein könnte, habe ich später mit Hilfe von Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre und anderen Dichtern verstehen gelernt – Verzweiflung, Eifersucht und Liebeshunger.
    «Hurenbub»? Ich war damals dreizehn, fast schon vierzehn, das neue Wort aus der Geheimniszone ängstigte mich. Das alte «ebbis machen» war nun täglich zu hören. «Nit für Schokolad ebbis machen», wurde ständig zu mir und meinen halbwüchsigen Cousinen gesagt. «Ebbis mit nem Schieber machen. Ebbis mit nem Neger machen.» – «Was machen?» – «Ja, das wirst du dann schon merken.» Es musste etwas Schlimmeres sein als Küssen, schon das war bekanntlich eine komplette Todsünde.
    Die Bächle, vom Trümmerschutt befreit, liefen wieder gluckernd durch die Straßen. Autos konnten jetzt wieder durchkommen, meistens waren es die Dienstwagen der französischen Besatzungsmacht, hier und da auch Amerikaner. Wenn diese mit ihren langen, angeberischen Wagen in eine kleine Straße gerieten und mit einem Rad im Bächle landeten, freuten wir uns. Wir waren schon darauf spezialisiert, wie man sie mit Brett und Heber aus Freiburgs Gewässern herausholt. Dafür gab es Trinkgeld, Zigaretten meist, einmal sogar einen ganzen Kasten Cola. Die erste Cola! Ein braunes Gesöff, das keinen von uns wirklich überzeugte.
    Allmählich hatte ich wieder meine Orientierungspunkte in Freiburg – das Quietschen der Straßenbahn, Bäckereidüfte, das Gelb der Briefkästen. Alles kriegte wieder eine gewisse Ordnung und Struktur, die Melodie der Stadt wurde regelmäßiger. Morgens zu Arbeits- und Schulbeginn die eiligen Schritte, um zwölf das Mittagsläuten, danach wurde es ruhiger. Man achtete wieder mehr auf die Glocken des Münsters, und seit der entnervende Dauerton des Steinepickens nachgelassen hatte, war sogar das Silberglöckle wieder gut zu hören. In der Nacht war es still, unfassbar und köstlich still.
    Am Gymnasium St. Ursula, in der Eisenbahnstraße, war täglich Unterricht. Mit Ausnahme der Tage, an denen wir zur Quäkerspeisung eingeladen waren, wir in Zweierreihen zu der etwa zwanzig Minuten entfernten warmen, nach Essen duftenden Baracke marschierten, wo wir Kakao und Brötchen, Brei, auch mal eine Apfelsine in Empfang nahmen. Wir lernten, so gut es eben ging, ohne Bücher, ohne Lineal und Zirkel. Wir schrieben, weil es keine Hefte gab, auf Packpapier oder auf Tapetenmusterrollen, was besonders mir schwerfiel. Vierunddreißig Mädchen drängten sich in meiner Klasse, alle waren mehr oder weniger verwildert. Uns zu konzentrieren fiel uns schwer, selbst bei unserer Klassenlehrerin Fräulein Hildegard, die wir liebten, und der uralten Religionsschwester Johanna. Wir hatten ein Riesenbedürfnis nach Unfug. Als Klassensprecherin war ich zuständig dafür, Streiche zu erfinden – für Schwester Johanna versteckten wir mal zweihundert Maikäfer im Lehrerpult, das war im Mai 1947.
    Einen der Lehrer konnten wir überhaupt nicht leiden. Er gab bei uns zwei Fächer, «Völkerverständigung» hieß das eine, «Französische Konversation» das andere. In beiden Stunden schimpfte er auf die Deutschen. Alles, was sie jemals gemacht hatten, egal ob unter Hitler oder vorher, war schlecht. Alles, was die Franzosen getan hatten, war gut.
    «Ihr dürft nicht mehr das Deutschlandlied singen.»
    «Dürfen wir denn unsere Heimat nicht lieben?»
    «Nein. Und nicht mehr marschieren.»
    «Und wo ist jetzt unser Vaterland?»
    «Eure Väter sind alle Nazis.»
    Unser Zorn über diesen Lehrer war groß. Sobald uns die Angriffe gegen unsere Heimat zu bunt wurden, kippten Bänke, flogen Papierkugeln. Die Aktionen weiteten

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