Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
am Dreikönigstag, Tante Regina sagte ihn zum Abschied:
«Du bisch d’ Schtrof Gottes!»
Danach wollte ich nicht mehr heim.
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Die Liebe zum Wind
«Marburg ist poplig!» Mein Urteil stand inzwischen fest. Diese lahme Lahn, die kann ja nicht mal rauschen. Wenn ich an einem Haus wilden Wein gesehen habe, war ich glücklich. Ich suchte immer etwas, was mich an Freiburg erinnerte. Nahe am Internat war eine riesenhafte Margeritenwiese, da konnte ich liegen. In der Natur konnte ich mein Heimweh lassen. Im Herbst bin ich oft durchs bunte Laub geraschelt. Zu Allerheiligen streifte ich auf dem Friedhof herum und habe Rotz und Wasser geheult, weil dort nichts los war, auch die Toten hier waren ja größtenteils evangelisch. Ich stolperte herum, an ein, zwei Gräbern habe ich schließlich ein Lichtle und einen Weihwasserkessel gefunden.
In den Ferien sah ich die wilde Dreisam und die Bächle wieder, das Münster mit seinen bunten Fenstern (die Marburger Elisabethkirche hatte keine). Ringsherum waren immer noch hier und da Ruinen, auf einigen hatten sich inzwischen Birken angesiedelt. Im Elternhaus schlief ich und aß ich, sonst nichts. Ostern pflückte ich Schlüsselblumen auf dem Schlossberg und nahm ein Sträußchen davon und etwas Efeu mit nach Marburg. Hier war alles, was in Freiburg längst verblüht war, noch im Kommen, das Scharbockskraut, Anemonen. So hab ich zweimal Frühling gehabt, und auch zwei Spätsommer.
«Magdalena träumt wieder», sagte der Mathelehrer.
Mathe war nicht mein Ding, am schwierigsten für mich war die Geometrie, etwa ein Dreieck in Punktschrift zu erfassen, Hypotenuse, Katheten und den ganzen Kram. Meine Vorstellungswelt war eben stark visuell, ich habe mir die Punkte mit farbigen Linien verbunden, dann ging es einigermaßen. Die Blindenschrift habe ich mir weitgehend selbst beigebracht. Mit den Fingern zu lesen, fand ich zunächst ziemlich mühsam. An Gedichte in Punktschrift konnte ich mich nie gewöhnen. Die besorgte ich mir immer in Druckschrift, ich brauchte das optische Bild, die Zeile, die Strophe, um sie auswendig zu lernen. Zum Üben der neuen Lesetechnik holte ich mir literarische Texte, der allererste war «Wind, Sand und Sterne» von Antoine de Saint-Exupéry. Diese Wüstenüberflüge nachzuvollziehen war eine harte Geduldsprobe. In den aufregendsten Momenten rutschte der Finger aus der Zeile. Ist er jetzt abgestürzt, der Pilot? Hat er den Nil verfehlt? Drei große Hefte umfasste das Buch von Saint-Exupéry, das im normalen Druck ein schmales Bändchen war. Dick und unhandlich waren diese Blindenbücher, diese geprägten Punkte auf starkem Karton. Um eine Gesamtausgabe der Bibel zu transportieren, braucht man fast eine ganze Schubkarre.
Eine Blindenschule ist eine Schule wie jede andere. Mal interessant, mal öde. Vielleicht war der Schabernack hier manchmal etwas speziell. Wir hatten einige Schüler, die Starbrillen trugen, die sind besonders dick und eignen sich vorzüglich als Brenngläser. Die Sonne schien in die Klasse. Einer in der ersten Reihe, der einen kleinen Sehrest hatte, fing die Strahlen ein und lenkte sie dem Mathelehrer auf die Glatze. Ein Aufschrei: «Aua! Gibt es denn schon Bienen?» Auch der Lehrer war blind, genau wie unser netter Deutsch- und Musiklehrer, zum Unfugtreiben war das ideal. Im Chor hab ich mich oft in den Tenor gesetzt und mit den Buben gesungen, er hat es nicht gemerkt.
Siebzehn war ich, und für Blödsinn immer noch zu haben. Und immer noch war ich vernarrt in die Geschwindigkeit. Zum Schlittenfahren gab es viele wunderbare Hügel, diesbezüglich war Marburg mehr als brauchbar. Zu zweit sausten wir den Hang runter, vorne ich, hintendrauf meist ein Bub, einer, der nichts sah. Sogar geradelt bin ich, man darf es gar nicht erzählen, über huckelige Feldwege, auf dem Gepäckträger mein Schatz. So leichtsinnig ist der Mensch, wenn er verliebt ist.
Es wurde auch getanzt im Internat. Bei den engen Tänzen merkte ich, wie da bei dem Jungen etwas wächst. Was wird da so hart und knubbelig? Und ich spürte, dass mein Körper das Ereignis erwiderte. Und dachte erstaunt, ich bin ja genau wie die anderen, die immer so viel über solche Sachen reden, ich bin ein hundsnormaler Mensch. Zugleich hab ich gewusst, das darf ich nicht, ich mach den Jungen verrückt, und ich kann ihm nicht geben, was er eigentlich will. Also Mund vor, Arme vor, Unterkörper zurück. «Bitte, nein. Nicht so nah!» Liebmündeln, ein wenig schmusen, ja,
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