Magermilch
Hause fahren«, sagte Fritz. »Nicht dass ich jemandem hier misstrauen würde, aber in der Firma wartet eine Menge Arbeit auf mich, die ich nur wegen der Gedenktour für meinen Chef liegen gelassen habe. Doch diese Tour ist ja soeben für abgesetzt erklärt worden.«
»Lass mich dir noch mal Danke sagen«, wandte sich Fanni an ihn. »Ich darf gar nicht dran denken, wie es hätte kommen können, wenn du nicht zur Stelle gewesen wärst. Niemand sonst hatte eine Chance, früh genug bei Leni zu sein. Wir andern standen viel zu weit entfernt.«
Fritz lächelte wieder sein wasserblaues Lächeln. »Ich glaube, sie hätte sich schon noch gefangen. Kaum hatte ich sie am Schlafittchen, stand sie ja schon auf den Füßen. Leni wäre sicher auch ohne mein Zutun nichts passiert.«
»Trotzdem«, sagte Fanni und reichte ihm die Hand. »Danke.«
Leni stand auf und gab ihm einen Kuss auf die Backe.
Er wandte sich ab und steuerte auf den Durchgang zu den Schlafräumen im ersten Stock zu, um zu packen.
Fanni und Leni blieben stehen und sahen ihm unschlüssig hinterher.
»Ihr wollt also alle verduften?«, rief Hannes, der am Tisch sitzen geblieben war und auf Rudolfs Mütze gestarrt hatte, die noch immer als Standplatz in der Mitte lag.
»Ich nicht«, erwiderte Leni.
»Eigentlich …«, begann Fanni, räusperte sich, wollte weitersprechen, aber Leni kam ihr zuvor.
»Mama, wir sind doch nicht hergekommen, um unverrichteter Dinge wieder abzuziehen, bloß weil ich ein bisschen übers Gletschereis gerutscht bin. Morgen besteigen wir den Großvenediger, gar keine Frage.«
Hannes’ Miene hellte sich auf. Da sagte seine Frau: »Wir beide fahren allerdings heim.«
Er sah sie völlig perplex an. »Ja wieso denn das?«
»Merkst du denn nicht«, antwortete Elvira scharf, »dass du derjenige bist, den alle am meisten verdächtigen? Wer hat denn ohne große Schwierigkeiten dafür sorgen können, dass Willi abstürzt? Du! Wer hat heute – ob nun Fanni und Leni danebenstanden oder nicht – am leichtesten den Karabiner aushängen können? Auch du! Leni war ja damit beschäftigt, ihre Prusikschlinge ums Seil zu knoten, und wie ich Fanni einschätze, hat sie ihre Tochter dabei nicht aus den Augen gelassen. Auch von den andern hat verständlicherweise keiner auf dich geachtet. Martha und ich waren auf dem Weg zur Hütte, Rudolf, Toni und Gunda haben sich unterhalten, und Fritz hat mit dem Reißverschluss seiner Jacke ein Gefecht ausgetragen, soviel ich vor meinem Aufbruch noch mitbekommen habe.«
Hannes klappte den Mund auf und wieder zu.
»Wenn morgen auch nur das Geringste passiert«, fuhr Elvira fort, »wem wird man dann die Schuld geben? Dir!«
Endlich fand Hannes seine Stimme wieder. »Aber sie brauchen mich, wenn sie auf den Gipfel wollen. Fanni und Leni können doch nicht allein …«
Er wurde unterbrochen, weil Toni und Martha mit gepackten Rucksäcken zurückkamen. Sie verabschiedeten sich recht kurz angebunden und gingen schnell davon.
»Leni hat keine Bergerfahrung«, ereiferte sich Hannes, als die beiden außer Sicht waren. »Und Fanni hat nie eine Seilschaft geführt oder selbstständig einen Standplatz gebaut. Kannst du Eisschrauben setzen, Fanni?«
Fanni schüttelte den Kopf.
»Das muss sie überhaupt nicht können«, widersprach Elvira. »Der Venediger ist schließlich kein Eiger. Auf dieser Touristenroute schon gar nicht. Wer nicht gerade Sturzübungen machen will, braucht hier keine Eisschrauben. Morgen sind vermutlich nicht mal Steigeisen nötig, weil es zusehends wärmer wird. Und weil die Hütte schon jetzt gerammelt voll ist, kann man davon ausgehen, dass sich morgen früh eine endlose Karawane in Richtung Gipfel wälzt. Fanni muss sich mit ihrer Seilschaft nur einreihen und in die Fußstapfen ihres Vordermanns treten.«
»Aber –«, begann Hannes.
»Wir bleiben nicht«, schnitt ihm Elvira das Wort ab. Ihr Ton drohte mit Scheidung. Da gab Hannes klein bei.
Rudolf räusperte sich. »Ich kann das nicht zulassen«, sagte er ernst, »dass Fanni und Leni allein gehen. Schon deshalb nicht, weil auf einem Gletscher mindestens drei in einer Seilschaft sein sollten.« Er sah Gunda erwartungsvoll an, und sie nickte leicht. Er lächelte ihr zu. »Also abgemacht. Gunda und ich bleiben.«
Fanni stand mit Leni vor dem Defreggerhaus und sah Elvira zu, wie sie den Pfad talwärts eilte. Hannes folgte mit großem Abstand.
Fritz hatte soeben seine Bergschuhe zugeschnürt und war nun ebenfalls marschbereit. Die Sonne
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