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Magermilch

Magermilch

Titel: Magermilch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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zu Berge stehen ließ. »Wenn einer aus der Seilschaft auf der einen Seite eines Grates hinunterstürzt«, so lautete die Anweisung, »dann muss ein zweiter auf der anderen Seite hinunter springen . Nur so lässt sich das Gleichgewicht halten und verhindern, dass die ganze Seilschaft in den Abgrund gezogen wird.«
    Würde ich springen?, fragte sich Fanni. Würde ich es früh genug tun? Sie begann zu hyperventilieren.
    Lieber Gott, lass keinen von uns stürzen, betete sie atemlos.
    Holla, Fanni Rot ist nach dreißig Jahren Agnostizismus wieder gläubig geworden!
    Halt dich raus.
    Was wenn eine der Seilschaften, die sich bereits auf dem Rückweg befinden, nicht abwartet und euch auf dem Grat entgegenkommt?
    Fanni hyperventilierte heftiger.
    Auf dem Gipfel wuselten so viele Leute hin und her, dass an eine gemütliche Brotzeitrast nicht zu denken war. Unter teils ärgerlichen, teils belustigten Blicken maulaffenfeilhaltender Alpinisten schichtete Rudolfs Seilschaft hastig ein paar Schnee- und Steinbrocken als Denkmal für Willi Stolzer aufeinander.
    »Und jetzt weg hier«, verlangte Leni, »bevor eine Abstiegs-Stampede ausbricht.«
    Seufzend betrachtete Fanni den Firngrat, über den sie nun wieder zurückmussten.
    Freu dich doch, dass du ihn schon bald wieder vergessen kannst!
    Unter dem Gipfelkreuz begannen soeben zwei Sechser-Seilschaften zu zanken, deren Seile sich ineinander verheddert hatten.
    »Abmarsch«, kommandierte Rudolf.
    Sie setzten sich in Trab, stiegen den Gipfelabhang hinunter, nahmen den Grat in Angriff, waren schnell darüber hinweg. Nicht weit dahinter, im oberen Keesboden, fanden sie eine sonnige Mulde, wo sie Mittagsrast hielten. Alle vier waren sich einig, dass auch der weitere Abstieg nach Hinterbichl möglichst zügig vonstattengehen sollte.
    Um ein Uhr erreichten sie das Defreggerhaus, um drei die Johannishütte. Um halb vier saßen sie im Sammeltaxi, aus dem sie um vier auf dem Parkplatz in Hinterbichl mit müden Beinen kletterten.
    Die Heimfahrt verlief recht still.
    Im Gasthaus vis-à-vis dem Parkplatz hatten sie noch schnell Kaffee getrunken und Apfelstrudel dazu gegessen, dann waren sie in Rudolfs Wagen gestiegen. Leni hatte sich neben Fanni auf dem Rücksitz zusammengerollt und war bald eingeschlafen.
    Vor der Ausfahrt Wörgl setzte Rudolf den Blinker. »Hannes hat mir geraten, hier zu tanken«, sagte er. »Er behauptet, in diesem Gewerbegebiet steht die Tankstelle mit den niedrigsten Spritpreisen von ganz Österreich. Solche Sachen weiß er immer ganz genau.«
    Während Rudolf den Tank füllte und Gunda die zerplatzten Insekten von der Windschutzscheibe scheuerte, ließ Fanni den Blick müde und entsprechend geistesabwesend durch die Umgebung schweifen.
    Ein Hinweisschild mit der Aufschrift »Stolzer & Stolzer – Holzhandlung« und einem roten Pfeil darunter fiel ihr ins Auge.
    Stimmt, dämmerte es ihr, es war ja schon ein paarmal von einer Niederlassung der Stolzers in Wörgl die Rede.
    Am Ende einer Zufahrt, auf die der Pfeil unter der Beschriftung des Schildes zeigte und die schräg gegenüber der Tankstelle in ein eingezäuntes, gut ausgeleuchtetes Terrain mündete, konnte Fanni eine Halle aus Fertigbauteilen erkennen, eine betonierte Rampe, mehrere Lastwagen – einer davon schien ihr zur Hälfte be- oder entladen zu sein –, einen Gabelstapler und einen grauen Pkw. Ihr Blick wanderte nachlässig über alles hinweg und kehrte zur Zapfsäule zurück. Dahinter tauchte Rudolf auf; wenig später startete er den Wagen.
    Fanni nickte ein und wurde erst nach drei Stunden wieder wach, als Rudolf bei der Abfahrt »Deggendorf Mitte« die Autobahn verließ. Zehn Minuten darauf hielt er vor dem Haus der Rots.
    Fanni schloss die Haustür auf.
    »Lass deinen Rucksack hier stehen«, sagte sie zu Leni. »Um den kann ich mich morgen kümmern. Geh du lieber gleich duschen und ins Bett.«
    »Okay – Nacht«, kam die gemurmelte Antwort ihrer Tochter von der dritten Treppenstufe auf dem Weg nach oben.
    Leni musste am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe losfahren, um pünktlich ihren Dienst im Universitätslabor in Nürnberg beginnen zu können.
    Das Mädel braucht sattsam Schlaf nach dem strapaziösen Wochenende!
    Als Fanni in den Flur trat – es war Viertel nach zehn –, erspähte sie durch den Glaseinsatz in der Tür, dass Hans Rot im Wohnzimmer vor dem Fernsehapparat hockte.
    Sie ging hinein und setzte sich neben ihn.

11

    »Oma, gut, dass du wieder da bist«, rief Max am nächsten Morgen,

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