Magermilch
stand inzwischen tief und spiegelte sich in den Hüttenfenstern.
Fritz blinzelte. »Eine Sonnenbrille könnte wohl nicht schaden.« Er fing an, in seinem Rucksack danach zu kramen. »Verflixt.«
Fanni schaute ihn fragend an.
»Ich hab den Beutel mit Kleinkram im Schlafraum vergessen, weil ich ihn vorhin aus dem Rucksack genommen habe, um die Lampe hineinzutun.«
Er begann, die Schuhe wieder aufzuschnüren, da es strikt verboten war, die oberen Räume der Hütte in Bergschuhen zu betreten.
»Behalt sie an«, sagte Fanni. »Ich hol dir deinen Beutel.«
Fritz lächelte sichtlich erleichtert. »Er liegt, glaube ich, auf dem Matratzenlager.«
Fanni setzte sich in Bewegung.
»Hellgrün mit einer durchgezogenen blauen Kordel«, rief er ihr nach. »Die Brille ist drin, die Stirnlampe, der Autoschlüssel …«
Fanni betrat den Schlafraum und fand den beschriebenen Beutel auf dem Fensterbrett. Um sicherzugehen, dass sie nicht einen falschen an sich nahm, öffnete sie ihn, sah den Schlüsselbund, die Stirnlampe, die Brille und ein Feuerzeug. Fanni starrte lange auf das Feuerzeug. Dann schloss sie den Beutel wieder und brachte ihn nach unten.
Fritz wühlte eine Weile darin herum, bevor er seine Sonnenbrille herausfischte. Als er sie gerade aufsetzen wollte, traf sein Blick auf Fannis. Die wasserblauen Augen schienen ihr plötzlich dunkel wie Bergschründe. Im nächsten Moment lagen sie hinter den Brillengläsern verborgen. Kurz darauf winkte Fritz zum Abschied und machte sich auf den Weg.
Nach dem Abendessen saßen sie zu viert auf der Holzbank vor der Hütte und hingen ihren Gedanken nach.
Fanni hatte Revue passieren lassen, was sich an diesem langen Tag ereignet hatte, und sie hatte einiges von dem, was dieser oder jener gesagt hatte, möglichst wörtlich zu rekapitulieren versucht. Letztendlich war sie zu dem Schluss gelangt, dass es erforderlich war, den Mordfall Willi Stolzer von einer ganz anderen Warte aus zu betrachten.
Es gibt da ein paar Hinweise, dachte Fanni, sehr vage Hinweise, zugegeben, die sich jedoch wie Puzzleteile ineinanderfügen lassen.
Ist es denn überhaupt möglich, Puzzleteile zusammenzusetzen, wenn man nicht recht weiß, wie das fertige Bild auszusehen hat?
Fanni zuckte zusammen, als vor der Hüttentür plötzlich eine fremde Stimme ertönte. »Hier oben sieht man die Sterne viel klarer.« Eine zweite Stimme murmelte Unverständliches, dann war es wieder still.
Leni hob ihr Gesicht und schaute in den Nachthimmel. »Es ist wahr«, seufzte sie.
Der geeignete Moment für ein bisschen Romantik! Sieh doch, glitzernde Sterne, ein funkelnder Mond, erleuchtete Berghänge, geheimnisvoll dunkle Schluchten!
Fanni starrte in den Nachthimmel und dachte, dass die Mondsichel dort oben hing wie eine Reklame für Dekorationsartikel.
Spielverderberin!
»Wir sollten uns schlafen legen«, sagte Fanni. »Frühstück um halb sechs.«
Die Besteigung des Großvenediger verlief ganz genau so, wie Elvira es vorausgesagt hatte. Ein schier ununterbrochener Zug von Alpinisten trat mit dicken Profilsohlen eine breite Spur in den von der Sonne aufgeweichten Schnee.
Rudolf führte die Seilschaft.
»Gunda macht den Schlussmann«, hatte er angeordnet. »Das ist dir doch recht, Fanni? Sie hat inzwischen mehr Erfahrung und viel mehr Übung als du. Glaub mir, Gunda reagiert schnell, besonnen, effektiv.«
Fanni hatte genickt. Dem Schlussmann kam fast ebenso viel Verantwortung zu wie dem Seilschaftsführer, eine Verantwortung, die Fanni ohnehin nicht übernehmen hätte wollen.
Und so reihten sie sich in den Strom der Gipfelstürmer ein: Acht Meter hinter Rudolf hatte sich Leni ins Seil gebunden. Acht Meter hinter ihr hing Fanni dran, und nach weiteren acht Metern kam Gunda. Etliche Schlaufen Restseil steckten in ihrem Rucksack.
Der Anstieg zeigte sich auf dieser Seite des Berges – von der ihn Fanni noch nie gemacht hatte – nur mäßig steil.
Ein Spaziergang, dachte sie. Ein geradezu gemütlicher Sonntagsspaziergang.
Vom warmen Südwind ließ sie sich alle Ängste wegblasen, stapfte guter Dinge dahin, bis, ja bis sie den schmalen Firngrat vor dem Gipfelaufbau erreichten.
»Lieber Gott«, flüsterte Fanni, »lass keinen von uns stolpern, keinen schwanken.« Sie blickte in die Schlünde, die sich links und rechts von ihr auftaten, und dachte an die Maßnahme, die laut Lehrbuch für Alpinisten beim Absturz eines Seilkameraden von der Gratschneide zu ergreifen war und die Fanni beim bloßen Drandenken die Haare
Weitere Kostenlose Bücher