Magermilch
Ehemann ermordet, die Schwägerin auf und davon. Toni möchte am liebsten ganz offiziell mit Günther …« Sie hielt erschrocken inne.
Fanni beugte sich vor und legte ihr die Hand auf den Arm. »Er hat es mir gesagt.«
Martha stöhnte. »Dann ist es ihm also ernst damit.«
Beschwichtigend sagte Fanni: »Natürlich wird es Gerede geben deshalb. Womöglich verliert ihr sogar den einen oder anderen erzkatholischen Kunden. Aber jeder Aufruhr legt sich eines Tages wieder.«
Martha warf ihr einen zweifelnden Blick zu. »Aber das ist noch nicht mal alles. Wörgl läuft nicht an; in letzter Zeit häufen sich Reklamationen wegen fehlerhafter Ware, und Hannes posaunt überall herum, dass die Firma Stolzer mit ganz abgefeimten Mitteln versucht, städtische Aufträge an Land zu ziehen.« Sie atmete durch und sagte leise, wie zu sich selbst: »Ich frage mich, ob Hannes mit dieser Anschuldigung nicht bloß von seinen eigenen Machenschaften ablenken will. Wer hat denn der Stadtverwaltung fünfzig laufende Meter Anbauregale geschenkt? Hannes Gruber. Dafür will er ja wohl honoriert werden.«
Martha sinnierte ein paar Augenblicke vor sich hin. »Fritz tut, was er kann«, sagte sie schließlich. »Aber als Geschäftsführer hat er, wo immer er auch auftritt, bei Weitem keine so gute Verhandlungsposition, wie er sie als Firmenchef hätte.«
»Du willst ihn beteiligen?«, fragte Fanni stirnrunzelnd.
Martha nickte verlegen.
Großer Gott, sie will ihn heiraten!
Bevor sich Fanni von ihrer Überraschung erholt hatte, rief Martha gequält: »Was soll ich bloß tun?«
»Abwarten«, sagte Fanni trocken, »und die Augen offen halten.«
»Die Augen offen halten!«, äffte Martha sie nach. »Als ob das was nützen würde. Hatten wir sie etwa zu, als sich bei der Übung am Fixseil der Karabiner gelöst hat? Hatten wir nicht. Und trotzdem ist uns allen völlig schleierhaft, wie das passieren konnte.«
»Schleierhaft«, wiederholte Fanni nachdenklich. »Wir sollten versuchen, den Schleier wegzuziehen.«
Martha sah sie an, als hätte Fanni ihr vorgeschlagen, das Holzlager anzuzünden. Aber sie sagte kein Wort. Fanni setzte nach: »Falls der Karabiner absichtlich aus der Bandschlinge gehakt wurde, dann müssen ein paar von uns diese Manipulation beobachtet haben. Unser Gehirn hat die Beobachtung allerdings missgedeutet, falsch eingestuft, fehlinterpretiert. Seit Tagen zerbreche ich mir den Kopf darüber, was mir im entscheidenden Augenblick entgangen sein könnte. Nur Hannes stand ja noch oben, als sich Leni ans Seil hängte. Hat mein Hirn ausgeblendet, dass er …«
Martha lachte sie aus. »Fanni, das ist doch dummes Psychologengeschwafel.«
»Was kann es denn schaden, einen Versuch zu machen?«, sagte Fanni. »Lehn dich zurück und schließ die Augen. Dann versetzt du dich noch mal auf deinen Posten am Fuß des Gletscherhangs. Und dann lässt du ganz langsam – wie in Zeitlupe – an dir vorüberziehen, was du in den Minuten vor Lenis Sturz alles bemerkt hast.«
»Als Leni ins Rutschen kam, war ich ja mit Elvira schon auf dem Weg zur Hütte«, wehrte Martha ab.
»Davor«, beharrte Fanni. »Was hast du im Hang beobachtet, bevor du dich weggedreht hast, um zur Hütte zu gehen?«
Martha seufzte, lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Fanni wartete. Sie wartete sehr, sehr lange, glaubte schon, Martha sei eingeschlafen.
Dämliches Psychospiel! Was kann sie schon Besonderes gesehen haben, Fanni?
Am Donnerstag warf sich Fanni ungestüm auf die Hausarbeit, um diverse Bilder zu verdrängen: Sprudels traurig-vorwurfsvollen Blick, den er ihr tags zuvor beim Abschied zugeworfen hatte; Leni, auf einen Felsabbruch zurutschend; einen lose am Ende einer Bandschlinge baumelnden Karabiner, der, durch den ersten starken Ruck daraus befreit, über den Hang hüpft.
Sie wusch die gesamte Wäsche ihres Enkels und legte schon einiges bereit, was am nächsten Tag eingepackt werden musste. Als es nichts weiter zu tun gab, kündigte sie Max an, dass sie ihm die Haare schneiden lassen wolle, damit er nicht morgen als Struwwelpeter nach Hause komme.
»Außerdem«, fügte sie hinzu, »müssen wir noch einkaufen.«
Vera hatte in dieser Woche bereits zweimal angerufen und Fanni daran erinnert, dass am Samstag in Stockheim ein Freundschaftsspiel des Fußballnachwuchses stattfinden sollte, bei dem Max auf keinen Fall fehlen dürfe. Fanni hatte dafür zu sorgen, dass Max am Freitag wohlbehalten in Klein Rohrheim eintraf. Nicht zu spät am Abend,
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