Maggie O´Dell 01 - Das Boese
der „Leben heute“ -Abteilung nannten Corby einen Nachrichtenfreak. Er trug witzige Nickelbrillen und schien nur schwarze Hosen und weiße Oxfordhemden zu besitzen, zu denen er mit Cartoonfiguren geschmückte Krawatten umband. Nicht genug damit, fuhr er auch noch Sommer wie Winter mit dem Fahrrad zur Arbeit. Nicht weil er sich kein Auto leisten konnte, sondern weil es ihm Spaß machte.
Als sie ihm heute Morgen von Matthew Tanner berichtete, hatte Corby still gelauscht.
„Christine, Sie wissen, was das bedeutet?“
Warum er den Printmedien den Vorzug gegeben hatte vor Fernsehjournalismus, war leicht zu verstehen. Der Klang seiner Stimme änderte sich nie, er zeigte keine Emotionen. Ungeachtet seiner Wortwahl war oft schwer zu entscheiden, ob er aufgeregt, gelangweilt und schlicht desinteressiert war. „Wenn Sie den Artikel noch für die Abendausgabe fertig kriegen, sind wir den anderen am dritten Tag hintereinander um eine Nasenlänge voraus.“
„Ich muss Mrs. Tanner noch zu einem Interview überreden.“
„Ob Interview oder nicht, Sie haben auch so genug für eine großartige Story. Vergewissern Sie sich nur, ob die Fakten stimmen.“
„Natürlich.“
Christine blickte jetzt zu Timmy hinüber, der sich vermutlich Sorgen um seinen Freund machte. Er hatte nichts dagegen gehabt, dass sie ihn zur Schule fuhr, und saß die ganze Zeit schweigend da. Sie bog in die Straße zur Schule und trat sofort auf die Bremse. Eine Autokolonne reichte bis zur Ecke. Offenbar brachten heute alle Eltern ihre Kinder zum Unterricht, viele zu Fuß, und an jeder Kreuzung begleiteten erwachsene Lotsen ihre kleinen Schutzbefohlenen.
Hinter ihnen hupte jemand. Christine und Timmy zuckten zusammen. Sie ließ den Wagen ein wenig vorrollen und reihte sich in die Schlange ein.
„Was ist los, Mom?“ Timmy löste den Sicherheitsgurt und kniete sich auf den Sitz, damit er über das Armaturenbrett sehen konnte.
„Die Eltern sorgen dafür, dass ihre Kinder sicher zur Schule kommen, okay?“ Einige wirkten überbesorgt, schoben die Kinder vor sich her, eine Hand an der Schulter, dem Arm oder dem Rücken, als bedeute zusätzlicher Kontakt auch zusätzliche Sicherheit.
„Wegen Matthew?“
„Wir wissen noch nicht, was mit Matthew ist. Vielleicht hat er sich nur über etwas aufgeregt und ist von zu Hause weggelaufen. Du solltest nichts von Matthew sagen.“ Sie hätte nicht mit ihm über Matthew reden sollen. Obwohl sie sich nach Bruces Weggang geschworen hatte, immer offen und ehrlich mit Timmy zu sein, hätte sie die Sache mit Matthew für sich behalten müssen. Außerdem wussten bisher nur sehr wenige Leute von seinem Verschwinden. Diese Panik hier war eine Reaktion auf ihre Artikel. Allein die Erwähnung des Namens Ronald Jeffreys löste den Schutztrieb bei Eltern aus. Mit derselben Panik hatten sie reagiert, als Jeffreys noch auf freiem Fuß gewesen war.
Christine erkannte Richard Melzer von KRAP-Radio. Er eilte im Trenchcoat den Bürgersteig entlang, in einer Hand eine Aktentasche, an der anderen ein kleines blondes Mädchen, zweifellos seine Tochter. Christine überlegte, dass sie so schnell wie möglich zu Michelle Tanner musste. Nicht lange, und die anderen würden von Matthews Verschwinden erfahren.
Die Autoschlange bewegte sich nur langsam voran, und sie suchte nach einer Lücke. Vielleicht konnte sie Timmy gleich hier absetzen.
„Mom?“
„Timmy, wir fahren so schnell es geht.“
„Mom, ich bin ziemlich sicher, dass Matthew nicht einfach weggelaufen ist.“
Sie blickte zu ihrem kleinen Sohn, der auf seinen Füßen hockte und die ungewöhnliche Parade draußen vor dem Fenster verfolgte. Sein Haar stand ab, obwohl er den Wirbel mit Wasser geglättet hatte. Die Sommersprossen ließen seine Haut nur noch blasser erscheinen. Wann war dieser kleine Junge so weise geworden? Sie hätte stolz sein sollen auf ihn, doch heute Morgen stimmte es sie vor allem traurig, dass sie ihm nicht länger die kindliche Unschuld bewahren konnte.
18. KAPITEL
Die bunten Gestalten in den Bleiglasfenstern blickten aus großer Höhe hinab. Der Duft von brennendem Weihrauch und Kerzenwachs erfüllte den Raum. Maggie fragte sich, warum sie sich in einer katholischen Kirche immer so fühlte, als wäre sie erst zwölf. Sofort dachte sie schuldbewusst an ihren schwarzen Spitzen-BH und den -Slip. Unangebrachte Farbe. Der Knauf ihrer Waffe stieß ihr in die Seite. Sie griff in die Jacke und richtete das Holster neu. Durfte sie in einer Kirche
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