Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
machen und meine Konkurrentin werden. Außerdem mache ich einen schönen Schnitt dabei. So, und jetzt gehen Sie heim und feiern mit Ihrem hübschen jungen Mann.“
Auf dem Heimweg zweifelte Tess, ob eine Feier möglich war. Daniel war letzte Woche sehr zornig auf sie gewesen, weil sie sich geweigert hatte, bei ihm einzuziehen. Sie konnte es ihm nicht mal verübeln. Warum nur stieß sie jeden Mann zurück, sobald sie das Gefühl hatte, er kam ihr zu nahe?
Herrgott, sie war doch kein Kind mehr. In wenigen Wochen wurde sie fünfunddreißig. Sie war dabei, eine erfolgreiche und respektierte Geschäftsfrau zu werden. Warum bekam sie dann ihr Privatleben nicht in den Griff? War sie dazu verdammt, in jeder normalen Beziehung zu scheitern? Gleichgültig, was sie tat, ihre Vergangenheit schien sie wieder in die alten, bequemen, aber zerstörerischen Bahnen zu lenken.
Die letzten fünf Jahre waren ein ständiger Kampf gewesen, und nun machte sie endlich Fortschritte. Dieser letzte Verkauf hatte bewiesen, dass sie gut war in ihrem Job. Sie konnte ihren Lebensunterhalt verdienen, ohne zu betrügen. Sogar Daniel mit seinen fein geschnittenen Zügen, seiner Bildung und Kultiviertheit war eine Art Trophäe geworden. Er war intellektuell und ehrgeizig und vollkommen anders als die Männer, mit denen sie bisher zusammen gewesen war. Was machte es da schon, dass er ein wenig arrogant war oder sie nur wenig gemeinsam hatten? Er tat ihr gut. Bei dem Gedanken zuckte sie zusammen. Das klang, als sei Daniel Lebertran.
Tess ertappte sich dabei, dass sie ihren geleasten Miata auf dem Parkplatz hinter Louies Bar und Grill abstellte. Sie würde sich eine Flasche Wein kaufen. Dann würde sie Daniel anrufen, sich für letzteWoche entschuldigen und ihn zu einem späten Dinner einladen, um zu feiern. Bestimmt würde er sich über ihren Erfolg freuen. Angeblich mochte er ihre Unabhängigkeit und Entschlossenheit, und Daniel war geizig mit Komplimenten, sogar mit halbherzigen.
Sie lehnte sich im Ledersitz zurück und fragte sich, warum sie sich schon wieder bei ihm entschuldigen wollte. Egal. Hauptsache, sie legten den Streit bei und schauten nach vorn. Sie wurde langsam gut darin, Vergangenes hinter sich zu lassen. Aber wenn das stimmte, was tat sie dann hier hinter Louies Bar? Sheps Spirituosenladen lag nur drei Blocks entfernt an der Straße und genau auf ihrem Heimweg. Was in aller Welt wollte sie hier beweisen? Vor allem sich selbst?
Sie griff nach dem Schlüssel im Zündschloss und wollte den Wagen wieder anlassen, als die aufschwingende Hintertür sie erschreckte. Ein stämmiger Mann mittleren Alters kam heraus, mehrere Abfalltüten in den Händen, die Schürze schmutzig und der kahl werdende Schädel glänzend vor Schweiß. Eine Zigarette hing ihm aus dem Mundwinkel. Ohne sie herauszunehmen, hievte er die Tüten in den Abfallcontainer und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. Als er sich umwandte, um zurückzugehen, entdeckte er sie, und es war zu spät.
Er griff nach der Zigarette, machte einen letzten Zug und warf sie zu Boden. In breitbeinigem Gang, mit dem er die von ihm bewunderten Profiringer imitierte, schlenderte er auf ihren Wagen zu. Er hielt das für cool. In Wahrheit sah er nur wie ein bemitleidenswerter, übergewichtiger, fast kahler Mann mittleren Alters aus. Trotz allem fand sie ihn nett. Er war fast so etwas wie ein alter Freund.
„Tessy“, sagte er. „Was zum Teufel tust du denn hier?“
Sie bemerkte, dass er lächeln wollte, doch er blieb ernst und rieb sich stattdessen sein Stoppelkinn.
„Hallo, Louie.“ Sie stieg aus.
„Verdammt schicker Schlitten, Tessy“, schwärmte er und betrachtete den glänzenden schwarzen Miata.
Sie ließ ihn den Wagen begutachten und bewundern und verschwieg, dass es ein Firmenfahrzeug war und nicht ihr eigenes. Eines von Delores’ Mottos lautete: Um Erfolg zu haben, musst du erst mal erfolgreich aussehen.
Schließlich musterte Louie ihr Designeroutfit, und sein anerkennender Pfiff ließ sie erröten. Sie hätte stolz sein sollen. Stattdessen vermittelte ihr seine Bewunderung zum zweiten Mal an diesem Tag das Gefühl, eine Betrügerin zu sein.
„Also, was machst du hier? Vergnügungstour durch die Slums?“
Ihre Wangen brannten. „Natürlich nicht“, wehrte sie sich entrüstet.
„He, ich mach nur’n Jux, Tessy.“
„Ich weiß.“ Sie lächelte und hoffte, überzeugend zu wirken. Sie wandte sich dem Wagen zu, um die Tür abzuschließen, obwohl
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