Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
unterdrücken. „Er hat sie seiner Sammlung einverleibt. Sie ist vielleicht schon tot.“ Sie griff nach dem Holster, steckte die Hände dann jedoch in die Taschen. „Falls sie nicht tot ist, wünscht sie wahrscheinlich, sie wäre es“, fügte sie im Flüsterton hinzu.
Tully rieb sich die Augen. Er hatte schon vor Stunden seine Brille abgesetzt. Er mochte nicht daran denken, dass Albert Stucky seine Sammlung komplettiert hatte. Auf seinem Schreibtisch, unter Handbüchern und Dokumenten vergraben, lag eine dicke Akte über vermisste Frauen aus dem ganzen Land. Frauen, die in den letzten fünf Monaten seit Stuckys Flucht spurlos verschwunden waren.
Der Umfang war nicht ungewöhnlich. Vermisste gab es dauernd. Manche Frauen verschwanden und wollten nicht gefunden werden. Andere waren von Ehemännern oder Liebhabern misshandelt worden und zogen es vor, unterzutauchen. Zu viele waren jedoch verschwunden, ohne dass es dafür eine Erklärung gab. Tully wusste genug über Stuckys Spielchen, um zu beten, dass keine von denen wirklich zu Stuckys neuer Sammlung gehörte.
„Schauen Sie, wir können heute Abend nichts weiter tun.“
„Wir müssen einen Luminoltest machen. Keith Ganza kanndas mit der Lumi-Lampe. Dann können wir das Schlafzimmer genau überprüfen.“
„Da ist nichts. Es gibt absolut keinen Grund anzunehmen, dass in diesem Haus ein Verbrechen passiert ist, Agentin O’Dell!“
„Mit der Lumi-Lampe können wir unsichtbare Spuren erkennen. Sie macht Blut, das in Fugen steckt, oder Flecke, die wir nicht mehr sehen können, sichtbar. Jemand hat hier ganz offensichtlich sauber gemacht. Aber man kann gar nicht genügend schrubben, um alles Blut wegzukriegen.“ Sie redete wie im Selbstgespräch, als hätte sie ihn nicht gehört oder er wäre gar nicht da.
„Heute Abend können wir nichts mehr machen. Ich bin erledigt, und Sie sind erledigt.“ Als sie wieder auf die Treppe zugehen wollte, hielt er sie sacht am Arm zurück. „Agentin O’Dell.“
Sie entriss ihm den Arm und sah ihn mit zornig funkelnden Augen an. Für einen Moment baute sie sich breitbeinig vor ihm auf, als fordere sie ihn zum Duell. Dann wandte sie sich jedoch plötzlich ab, marschierte zur Tür und schaltete unterwegs das Licht aus.
Tully folgte ihr. Ehe sie es sich anders überlegen konnte, lief er rasch hinauf, um die obere Beleuchtung zu löschen, und als er wieder herunterkam, schaltete O’Dell im Foyer die Alarmanlage ein. Nachdem er die Haustür abgeschlossen hatte und neben Maggie zum Wagen ging, bemerkte er erst, dass sie ihren Revolver in der Hand hielt, am herabhängenden Arm, der Lauf nach unten zeigend, jedoch fest im Griff.
Plötzlich wurde ihm klar, dass Hysterie, Frustration und Wut Folge ihrer Angst waren. Wie dumm von ihm, es nicht gleich zu merken. Spezialagentin Maggie O’Dell hatte panische Angst, nicht nur um Tess, sondern auch um sich selbst.
39. KAPITEL
Tess erwachte ruckartig. Ihre Kehle fühlte sich an wie Sandpapier, so trocken, dass das Schlucken schmerzte. Die Lider waren ihr schwer wie Blei. Ihre Brust tat weh wie von einem massiven Gewicht gequetscht. Doch es lag nichts auf ihr. Sie war auf einer schmalen, klumpigen Pritsche ausgestreckt. Der Raum war nur schwach erhellt. Schimmelgeruch umgab sie, und ein Luftzug ließ sie die kratzige Decke bis unters Kinn ziehen.
Sie erinnerte sich, wie gelähmt gewesen zu sein. In Panik hob sie beide Arme, froh, nicht gefesselt zu sein, aber zugleich enttäuscht, dass die Gliedmaßen schwer waren wie Blei. Jede Bewegung war ungelenk, als gehörten Arme und Beine gar nicht ihr. Zumindest konnte sie sie bewegen.
Sie versuchte sich aufzurichten, und ihre Muskeln protestierten. Der Raum begann sich zu drehen. Ihre Schläfen pochten, und Übelkeit überkam sie so rasch und heftig, dass sie sich wieder hinlegte. An Kater war sie gewöhnt, aber das hier war schlimmer. Man hatte ihr etwas gespritzt. Sie erinnerte sich an den dunkelhaarigen Mann und die Nadel. Du lieber Gott, wohin hatte er sie gebracht? Und wo war er?
Sie ließ den Blick durch den kleinen Raum wandern. Die Übelkeit zwang sie, den Kopf auf dem Kissen zu lassen. Sie reckte und drehte den Hals, um die Behausung genau in Augenschein zu nehmen. Eine Art hölzerner Verschlag. Durch die Schlitze zwischen den verrotteten Brettern drang Licht ein als einzige Beleuchtung. Soweit sie es einschätzen konnte, war es entweder wolkig oder so früh oder spät am Tag, dass keine Sonne schien. Wie auch immer, sie
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