Maggie O'Dell 03 - Schwarze Seele
„Danke Joe“, und er bemerkte nicht, dass sie seinen Namen auf dem Namensschild gelesen hatte.
Sie ging langsamer und sah auf die Uhr. Noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang. Ihr Boss, der stellvertretende Direktor Kyle Cunningham, hatte sie mit seinem Anruf aus dem Bett geholt. Das war nichts Neues. Als FBI-Agentin war sie es gewöhnt, mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt zu werden. Und geweckt hatte er sie auch nicht. Er hatte nur ihr übliches schlafloses Herumwälzen unterbrochen. Sie war wieder einmal von Albträumen aufgeschreckt worden. Sie hatte genug Blut gesehen und genügend entsetzliche Erfahrungen gemacht, um ihr Unterbewusstsein auf Jahre hinaus zu beschäftigen. Bei dem Gedanken presste sie die Kiefer aufeinander und merkte plötzlich, dass sie beim Gehen die Hände ballte. Sie streckte lockernd die Finger, als rügte sie sie für ihren Eigensinn.
Ungewöhnlich an Cunninghams Anruf war seine angespannte, traurige Stimme gewesen. Deshalb war Maggie nervös. Der Mann war die Ruhe und Gelassenheit in Person. Sie arbeitete seit neun Jahren mit ihm zusammen und konnte sich nicht erinnern, jemals eine andere als seine ruhige, knappe und präzise Sprechweise an ihm erlebt zu haben. Selbst dann, wenn er sie tadelte. Heute Morgen jedoch hätte sie schwören können, ein leichtes Beben in der Stimme zu hören, eine emotionale Regung, die ihm die Kehle abschnürte. Das genügte, auch sie leicht aus der Fassung zu bringen. Wenn Cunningham sich derart über diesen neuen Fall aufregte, musste es schlimm sein, sehr schlimm sogar.
Er hatte ihr die wenigen Fakten mitgeteilt, die er selbst kannte. Für Details war es noch zu früh. Offenbar hatten ATF und FBI in einer Hütte am Fluss Neponset in Massachusetts eine Gruppe von Männern belagert. Drei Agenten waren verletzt worden, einer tödlich. Fünf Verdächtige aus der Hütte waren tot. Einen Überlebenden hatte man festgenommen und nach Boston gebracht. Der Geheimdienst hatte noch keine Erkenntnisse, wer die jungen Männer waren, welcher Gruppe sie angehörten und warum sie ein Waffenarsenal angehäuft, auf Agenten geschossen und sich dann selbst das Leben genommen hatten.
Während Dutzende Agenten und Polizisten die Wälder und die Hütte durchkämmten, um Antworten auf ihre Fragen zu erhalten, war Cunningham gebeten worden, mit einer kriminalpsychologischen Analyse der Verdächtigen zu beginnen. Er hatte Maggies Partner, Spezialagent R. J. Tully, an den Tatort geschickt und Maggie wegen ihrer forensischen und medizinischen Ausbildung hierher zur Leichenhalle der Stadt, wo die sechs Toten darauf warteten, ihre Geschichte zu erzählen.
Als sie zur offenen Tür am Ende des Flures kam, konnte sie die schwarzen Leichensäcke sehen, die auf Stahltischen hintereinander aufgereiht waren. Fast sah es nach einer makaberen Kunstinszenierung aus, irgendwie zu unwirklich, um echt zu sein. Aber hatte sie diesen Eindruck in letzter Zeit nicht bei vielen Ereignissen ihres Lebens gehabt? Irgendwann wurde es schwierig, zwischen Realität und ihren nächtlichen Albträumen zu unterscheiden.
Erstaunt sah sie Stan Wenhoff in voller Montur auf sie warten. Gewöhnlich überließ Stan die morgendlichen Einsätze seinen kompetenten und fähigen Assistenten.
„Guten Morgen, Stan.“
„Hmm“, grunzte er seine übliche Begrüßung und drehte ihr den Rücken zu, während er Objektträger gegen das fluoreszierende Licht hielt.
Er tat so, als wären Dringlichkeit und Wichtigkeit dieses Falles nicht der Grund, warum er selbst aus dem Bett gestiegen und hergekommen war, wo seine übliche Vorgehensweise doch darin bestand, einen seiner Assistenten anzurufen und zu schicken. Stan wollte sich bestimmt nicht vergewissern, dass alles nach Vorschrift gemacht wurde, aber er ließ nie eine Gelegenheit aus, sich in den Medien zu präsentieren. Die meisten Pathologen und Gerichtsmediziner, die Maggie kannte, waren ruhige, ernsthafte, manchmal zurückhaltende Menschen. Stan Wenhoff jedoch, der Chef-Gerichtsmediziner des Distrikts, liebte es, im Scheinwerferlicht vor einer Kamera zu stehen.
„Sie sind spät“, grummelte er und warf ihr einen Blick zu.
„Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.“
„Hmm“, machte er wieder und schob mit seinen dicken Stummelfingern die Objektträger in ihre Behälter zurück, um seine Unzufriedenheit zu signalisieren.
Maggie ignorierte ihn, zog ihre Jacke aus und bediente sich am Wäscheschrank, weil sie wusste, dass Stan sie nicht dazu
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