Maggie O'Dell 03 - Schwarze Seele
überwältigend und ihr leerer, rebellierender Magen Grund genug, ihm nachzugeben, doch etwas ließ ihr keine Ruhe. Sie erinnerte sich an einen Morgen vor knapp einem Jahr in einem Hotelzimmer in Kansas City. Spezialagent Richard Delaney war so sehr um ihre psychische Stabilität besorgt gewesen, dass er ihre Freundschaft aufs Spiel gesetzt und ihr Fehlverhalten zu ihrem Schutz ihren Vorgesetzten gemeldet hatte. Nachdem er mit Agent Preston Turner fünf Monate lang ihren Leibwächter gespielt hatte, um sie vor dem Serienkiller Albert Stucky zu schützen, war es zu einer frühmorgendlichen Konfrontation gekommen. Delaney hatte zu ihrem Wohl seinen Starrsinn gegen ihren aufgeboten.
Damals hatte sie jedoch nicht einsehen wollen, dass er sie zu schützen versuchte und wieder mal die Rolle des großen Bruders übernahm. Nein, sie war nur wütend gewesen. Und seit diesem Streit hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen.
Nun lag er hier in einem schwarzen Leichensack aus Nylon und konnte die Entschuldigung für ihren Eigensinn nicht mehr annehmen. Das Mindeste, was sie jetzt noch für ihn tun konnte, war, dafür zu sorgen, dass er mit dem Respekt behandelt wurde, den er verdiente. So viel schuldete sie ihm, und mochte ihr noch so übel werden.
„Ich komme wieder in Ordnung“, sagte sie.
Stan blickte kurz über die Schulter und bereitete seine glänzenden Instrumente auf die Autopsie an der ersten Jungenleiche vor. „Natürlich kommen Sie wieder in Ordnung.“
„Nein, ich wollte damit sagen, ich bleibe.“
Diesmal sah er sie stirnrunzelnd über seine Schutzbrille hinweg an, und sie wusste, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es wäre schön gewesen, wenn sich ihr Magen auch damit einverstanden erklärt hätte.
„Hat man die leere Patronenhülse gefunden?“ fragte sie und zog ein frisches Paar Handschuhe über.
„Ja. Sie liegt drüben auf dem Tresen in einem Beweisbeutel. Sieht nach einem Schnellfeuergewehr aus. Ich habe es mir noch nicht genau angesehen.“
„Demnach kennen wir die Todesursache zweifelsfrei?“
„Worauf Sie wetten können. Kein Grund für einen zweiten Schuss.“
„Einschuss- und Austrittswunde sind eindeutig festzulegen?
„Absolut. Ich denke, da gibt es keine Schwierigkeiten.“
„Gut. Dann müssen wir ihn nicht aufschneiden. Wir schreiben unseren Bericht auf Grund der äußeren Beurteilung.“
Diesmal hielt Stan inne, drehte sich zu ihr um, sah sie lange an und sagte: „Margaret, ich hoffe, Sie wollen mir nicht vorschlagen, dass ich etwas anderes als eine volle Autopsie durchführe?“
„Nein, das schlage ich nicht vor.“ Er entspannte sich und nahm seine Instrumente wieder auf, als sie hinzufügte: „Ich schlage es nicht vor, Stan, ich bestehe darauf, dass Sie keine volle Autopsie durchführen. Und glauben Sie mir, Sie werden nicht den Wunsch verspüren, sich in diesem Punkt auf einen Streit mit mir einzulassen.“
Sie ignorierte seinen bohrenden Blick, zog den Reißverschluss von Agent Delaneys Leichensack ganz auf und hoffte, ihre Knie würden nicht nachgeben. Sie erinnerte sich, dass seine Frau Karen seine Tätigkeit als FBI-Agent immer gehasst hatte. Fast so sehr wie ihr fast Exmann Greg ihre Tätigkeit verabscheute. Maggie musste an Karen denken und an die beiden kleinen Mädchen, die jetzt ohne ihren Daddy aufwuchsen. Wenn sie schon sonst nichts mehr tun konnte, würde sie wenigstens dafür sorgen, dass Richard Delaney nicht unnötig zerstückelt wurde.
Erinnerungen an den Tod des eigenen Vaters stiegen in ihr auf. Sie sah ihren Dad in dem riesigen Mahagonisarg liegen, in einem braunen Anzug, der ihr fremd war. Und seine Haare waren falsch gekämmt gewesen. So hätte er sie niemals getragen. Der Bestatter hatte versucht, ihn zu schminken und von der verbrannten Haut zu retten, was zu retten war, doch es hatte nicht ausgereicht. Sie war mit ihren zwölf Jahren entsetzt gewesen von dem Anblick. Sie hatte sich vor dem Parfüm geekelt, das den überwältigenden Geruch nach verbranntem Fleisch ohnehin nicht überdecken konnte. Dieser Geruch war unvergleichlich und kaum zu ertragen gewesen. Großer Gott, sie roch ihn heute noch. Und die Worte des Priesters hatten ihr auch nicht geholfen: Aus Erde bist du geschaffen, zu Erde sollst du werden, Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Dieser Geruch, diese Worte und der Anblick ihres toten Vaters, das alles hatte sie in ihren kindlichen Träumen wochenlang verfolgt. Dabei hatte sie versucht, sich zu
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