Magic Cleaning
ordnen die auf dem Boden verstreuten Bücher in themenbezogene Stapel, Sie bearbeiten die Tastatur Ihres Computers mit einem Spezialreiniger – plötzlich sind Sie nicht mehr zu bremsen. Da werden schnell noch die Notizen und anderes Material im Regal sortiert, danach kommen die Schreibutensilien in den Schubladen an die Reihe und so weiter und so fort. Die Zeit vergeht wie im Fluge, und plötzlich ist es halb drei Uhr morgens. Als es endlich um den Schreibtisch herum ordentlich aussieht, fühlen Sie sich kaputt und schläfrig. Also nicken Sie ein und schrecken gegen fünf Uhr wieder hoch, raffen sich auf, um sich doch noch einmal richtig mit dem Stoff zu beschäftigen. Ich gebe es zu und möchte es auch nicht beschönigen: Genau das ist mein Ritual an Abenden vor Prüfungen.
Wenn Sie jetzt meinen, dass dieser Aufräumanfall nur mich heimsucht, die ich ja ohnehin ein Interesse am Aufräumen habe – weit gefehlt. Sobald ich in einer meiner Vortragsveranstaltungen davon erzähle, tuscheln meine Zuhörer untereinander: «Das kenne ich» und «So war es bei mir auch». Dies ist also ein ziemlich weit verbreitetes Phänomen. Und der Zustand beschränkt sich nicht nur auf den Tag vor einer Prüfung, es gibt viele Menschen, die Lust auf das Aufräumen bekommen, wann immer ein Termin, egal welcher Art, drängt.
Doch wenn man Lust bekommt, fieberhaft aufzuräumen, so heißt das nicht, dass man wirklich aufräumen
möchte
. Ein solcher Anfall tritt nämlich dann auf, wenn es auf psychologischer Ebene um etwas ganz anderes geht. Es handelt sich um eine Art Aufschubfunktion, man schafft sich ein Alibi, um sich nicht der eigentlichen Aufgabe widmen zu müssen, die vordringlich zu erledigen wäre. So ist man zum Beispiel voller Unlust und Unwohlsein, weil man weiß, dass man jetzt lernen muss, aber dann lenkt man die Energie um, indem man beim Anblick der Unordnung feststellt: «Ich muss unbedingt aufräumen.» Schon kann man sich voller Eifer auf diese Arbeit stürzen. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass kaum jemand einen Aufräumanfall am Tag
nach
der Prüfung bekommt, denn dann ist der Eifer verflogen, man vergisst das Aufräumen und kehrt zur alltäglichen Unordnung zurück. Da das Problem «ich muss jetzt lernen» erst mal aus der Welt ist, gibt es auch keinen Grund mehr, das Aufräumen als Alibi für das Nicht-Lernen zu benutzen.
Dennoch hat der Aufräumanfall (beziehungsweise indirekt die Prüfung) dafür gesorgt, dass überhaupt mal wieder etwas Ordnung gemacht wurde. Das Durcheinander im Zimmer ist verschwunden. Aber ist damit auch das Durcheinander in der Seele beseitigt? Sicher, wenn man ein aufgeräumtes Zimmer hat, fühlt man sich erst mal erleichtert und ist vielleicht sogar ein wenig stolz. Die wahre Ursache der Unlust und des Unwohlseins ist damit aber nicht behoben, denn die nächste Prüfung kommt bestimmt, und auch für die wird man wieder lernen müssen. Die Prüfungsergebnisse würden ohne Aufräumanfall wahrscheinlich um einiges besser ausfallen. Diese Erfahrung habe ich selber oft genug machen müssen. Ideal wäre es gewesen, wenn ich beim physischen Aufräumen zum «psychischen Aufräumen» vorgedrungen wäre, mir also zum Beispiel Gedanken gemacht hätte,
warum
ich das Lernen aufschiebe,
was
mich mental blockiert etc. Aber wer kann das schon in der unruhigen Verfassung vor einer Prüfung?
An dieser Stelle möchte ich etwas genauer auf das Problem des unaufgeräumten Zimmers eingehen. Eine Unordnung im Zimmer entsteht nicht von selbst. Der Bewohner bringt sie hinein. Es gibt im Japanischen ein Sprichwort: «Die Unordnung im Zimmer entspricht der Unordnung im Herzen.» Der Zustand der Unordnung weist also immer auch auf ein psychisches Problem hin.
Dinge herumliegen zu lassen ist eine menschliche Verteidigungsstrategie, um vom wahren Problem abzulenken. Befinden wir uns in einer Stresssituation (Angst, Frust, Unlust etc.) neigen wir dazu, auf den Anblick unseres unaufgeräumten Zimmers heftiger zu reagieren als gewohnt. In ruhigen, ausgeglichenen Phasen stört uns das Chaos nicht. Jetzt aber können wir uns geradezu hineinsteigern. Wir sagen dann: «Dieses Zimmer sieht schlimm aus.» «Wie bei Hempels unterm Bett, das macht mich ganz nervös.» Oder (der zeitlose Klassiker): «So kann ich nicht arbeiten.» Aber anstatt sich zu fragen, was eigentlich los ist, welche Ursache die Gereiztheit hat, krempelt man die Ärmel hoch und lenkt sich mit fieberhaftem Aufräumen ab. Doch der Erfolg dieser
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