MAGICA MATHEMATICA
die Dächer Sienas streifen und sich an dem trüben kleinen
Sprossenfenster der Küche brechen. Heute ist ein besonderer Tag. Der Tag, der
die Richtung der Lebenswege von Carla und Pedro bestimmen wird. Carla hat die
Chance für eine Ausbildung zur Steinbildhauerin. Carlas Traumberuf, der für
Mädchen unzugänglich ist. Pedro könnte den Maurerberuf erlernen.
Pedro tunkt sein hartes Brot in den
Gerstenkaffee. Mutter kämmt der kleinen Francesca das lange Haar und flechtet
es zu Zöpfen. Sie taucht dazu den Kamm immer wieder in das Spülbecken.
Carla bleibt auf der Schwelle zur Küche
wie angewurzelt stehen. „Permesso?“, fragt sie höflich. In Italien ist es
üblich, in der Tür stehen zu bleiben und erst um Erlaubnis zu bitten, bevor man
einen Raum betritt. „Carla komm rein, setzt dich an den Tisch“, sagt Pedro
strahlend.
Carla mustert Pedro. Er sieht verändert
aus. Seine Mutter hat sein weißes Hemd frisch gewaschen, gebügelt und gestärkt.
Pedro hat lange seine Schuhe geputzt und glänzend poliert. Er hat sich sein
Haar gewaschen und mit ein wenig Olivenöl nach hinten gekämmt. Seine Hände und
Fingernägel hat er stundenlang mit Bürste und Seife geschrubbt. Nur die
Schwielen bezeugen, dass er hart arbeitet.
„Pedro, du siehst wie der Musterschüler
aus“, spottet Carla. „So denkt niemand von dir, dass du seit Jahren nur
schuftest und deine vierjährige Schulzeit eine halbe Ewigkeit zurückliegt.“ – „Wir
müssen los“, hetzt Pedro. Er hebt seine kleine Schwester noch mal auf Augenhöhe
hoch. „Ciao, Kleine.“ Mutter umarmt Pedro und sagt: „Ich wünsche dir viel
Glück. Du schaffst es!“ Pedro sieht dabei zu Carla: „Wir beide schaffen es!
Gemeinsam sind wir stark.“
Sie brechen auf und verlassen Pedros
Zuhause in der dunklen und ärmlichen Gasse der Via Vicoletto.
Marcella, die nebenan wohnt, hängt wie
jeden Morgen die Wäsche zum Trocknen über die Straße raus. „Ciao, Pedro“, ruft
sie gut gelaunt wie immer. „Wie siehst du heute aus? So ordentlich? Ist es
Sonntag? Was hast du vor? Warum gehst du nicht zur Arbeit?“ – „Nein, Carla und
ich gehen heute zur Schule.“ Sie zwängen sich unter den, mit Bettlaken
behängten, von Haus zu Haus gespannten Wäscheleinen durch. „Wir sehen uns ja
morgen beim Palio. Da werde ich dir alles erzählen. Wir sind schon spät dran“,
ruft Pedro über die Schulter zurück und die beiden verschwinden um die Ecke.
Der Weg vom Stadtviertel des Panthers,über das Stadtviertel der Gans, indem die
Schlachthöfe und Gerbereien angesiedelt sind über den Piazza del Campo in den
nördlichen Teil der Stadt, dem Stadtviertel der Raupe, der gut betuchten
Kaufleute und Unternehmer ist nicht weit. Trotzdem war Pedro nur wenige Male in
dieser Gegend.
Carla bleibt vor einem dreistöckigen
ockerfarbenen Palazzo stehen. Die Fassade ist reichlich verziert und hohe
Bogenfenster verleihen dem Gebäude etwas Majestätisches. „Das ist die
Baukunstschule“, sagt sie. Rechts neben dem großen Tor ist eine Keramiktafel in
die Wand eingemauert, auf der eine Raupe zu sehen ist.
Stolz schreiten Carla und Pedro über den
polierten Marmorboden. Am Ende des Flurs verschwinden sie durch eine hohe
Doppeltüre. Das Studierzimmer ist groß und hell. Am Fenster steht ein
länglicher Tisch aus dunklem Holz. Das nötige Arbeitsmaterial: Verschiedene
Bögen Papier, Bleistift, Zirkel und Lineal liegen geordnet auf dem Tisch.
Außerdem, Pedro traut seinen Augen nicht: Platten mit Früchten, Bruscetta,
Panini, Käse, Schinken, Hühnchen mit Rosmarin und eine Karaffe mit frischem
Wasser. „Prima! Wir werden heute auf jeden Fall satt“, was für Pedro nicht
alltäglich ist. „Bei uns daheim gibt es seit Tagen nur heißes Wasser, gewürzt
mit frischer Petersilie, einer Knoblauchzehe, einer Zwiebel und Salz. Dazu
schneide ich altes Brot und lege es in die Suppenteller, bevor Mama die Brühe
darüber schöpft. Für alle gibt es aber nur einen Teller. Den Rest bewahren wir
uns für den Abend auf.“
„Ja und morgen ist der Palio. Da wirst du
dich auch satt essen.“ – „Ja, am Palio sind wir bei
Zia Margherita. Sie wohnt in der Nähe des Campo und von ihrem Küchenfenster aus
sieht man eine kleine Ecke des Campo.“ - „Die Küche deiner Tante wird an so
einem Tag wohl nicht kalt bleiben. Kocht sie gut?“ – „Ich werde mich auf jeden
Fall mit Brotsalat und Reiskroketten satt essen.“ - „Reis – Timbale mit Tauben
– Salmi?“ – „Nein, nur einfache
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