Magical Mystery
hoffte nur, dass Hans-Peter nicht mitbekommen hatte, wie ich zusammengezuckt war, aber der Kleine hatte genug mit seinem eigenen Schrecken zu tun, er schrie auf, sprang zurück und zog dabei den Besenstiel aus dem Käfig. Das Gitter klappte nach unten und er drehte sich zu mir herum. Ich hob beruhigend die Hände.
»Kein Grund zu erschrecken, das ist immer so.«
»Mann, hab ich mich erschrocken.«
»Musst du nicht, ist ganz normal. Der kann dir ja nichts tun, da ist ja immer noch das Gitter dazwischen – irgendwie.«
»Mann, hab ich mich erschrocken.«
»Okay, der hat genug. Jetzt den Nächsten.«
Hans-Peter guckte mich zweifelnd an, er war ganz blass geworden, der kleine Spargeltarzan. Dann betrachtete er wieder das Reptilienbecken. Die Lage der Alligatoren hatte sich verändert, der, der gefressen hatte, war jetzt ganz vorne und im Wasser, während die beiden anderen weiter hinten, wo das Land war, übereinanderlagen.
»Gleich den Nächsten füttern«, sagte ich.
»Mach du!« Hans-Peter hielt mir den Stock hin.
Ich ging in die Küche zum Fleisch, Hans-Peter folgte mir mit dem Stock. »Mach du.« Er klopfte mir mit dem Stock gegen die Hüfte. »Mach du.«
»Keine Lust mehr?«, sagte ich.
»Nee, mach du!«
»Willst du noch zugucken oder willst du gleich zu Hartmut hochgehen?«
»Die Schule fängt gleich an«, sagte er. »Ich geh da mal hin.«
»Aber erst Hartmut Bescheid sagen!«
»Au Mann …«
»Du hast es versprochen. Und Entschuldigung sagen.«
»Au Mann …«
»Du hast es versprochen.«
»Na gut …«
»Hier!« Ich hielt ihm den Brei hin, den ich gerade noch angerührt hatte. »Iss noch schnell was. Du sollst ja dicker werden!«
Er stopfte sich den Brei rein und dann ging er. Vielleicht zu Hartmut, vielleicht zur S-Bahn, wer konnte das wissen? Als sich die Tür hinter ihm schloss, war ich ein bisschen traurig.
Beim Alligatorenfüttern merkte ich immer, wie einsam ich war.
5. Schlumheimer für Arme
Kurz nach der Fütterung liefen in der Werkstatt die Anrufe ein. Die Gruppen riefen immer in der halben Stunde an, nachdem die Kinder in den Unterricht gegangen waren, dann machte immer einer von den Erziehern Kaffee und die anderen inspizierten die Räume, um zu notieren, was alles kaputt war, und dann tranken sie Kaffee und einer rief in der Werkstatt an. Seit Rüdiger nicht mehr mitspielte und ich mir meine Zeit selber einteilen konnte, versuchte ich, mein Kaffeemachen und Kaffeetrinken mit ihrem Kaffeemachen und Kaffeetrinken zu synchronisieren, aber die Kaffeemaschine, die Rüdiger mir hinterlassen hatte, brauchte eine Ewigkeit für ihren Job, ich hätte sie längst entkalken sollen, aber so läuft das, man repariert alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist, Stühle, Toilettenspülungen, Kasperletheater, Heizungen, Rasenmäher und zerbrochene Bilderrahmen, aber die eigene Kaffeemaschine zu entkalken schiebt man immer weiter vor sich her. Wer weiß, was Dr. Selge dazu zu sagen gehabt hätte, sie war ja nicht nur Psychiaterin, sondern auch Psychoanalytikerin, als solche hätte sie sicher eine interessante Theorie dazu gehabt, aber bei mir war sie nur Psychiaterin, an mich war sie analysemäßig nicht rangekommen, nicht, dass sie es nicht versucht hätte, sie hatte ja schon meine Mutter analysiert, da wollte sie natürlich auch mal die Gegenseite durchchecken, aber ich hatte das abschmettern können: »Das wäre ja Parteienverrat«, hatte ich gesagt und sie darauf: »Ich bin Ärztin, kein Anwalt, was denken Sie?!«, als ob ich das nicht gewusst hätte, als Ärztin behandelte sie mich ja schon die ganze Zeit, seit ich aus Ochsenzoll raus war, daran hatte es keinen Weg vorbei gegeben, aber Analyse, nein danke, irgendwo musste auch mal Schluss sein, man kann doch nicht jemanden an seine Ödipuskomplexe lassen, der schon die eigene Mutter analysiert hat!
Jedenfalls liefen wie jeden Tag die Anrufe ein, während die Kaffeemaschine laut vor sich hin gurgelte. Das Telefon war gleich neben der Kaffeemaschine an der Wand verschraubt, deshalb waren das anstrengende Telefonate und die Reparaturzettel waren auch gerade alle, da war ein Besuch bei Frau Schmidt und ihrem Kopierer fällig, einen hatte ich noch ausgefüllt und dann erst gemerkt, dass es schon der vorletzte war, so beginnen Tage, an denen man auf die Idee kommen konnte, sein Leben neu zu gestalten, endlich alles anders zu machen, zum Beispiel morgens erst in die Werkstatt zu gehen und die Kaffeemaschine anzumachen und dann erst in den Zoo,
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