Magical
erfasste. Ich spürte, wie mein Kopf auf den Meeresboden prallte und mein Mund voll Wasser und Sand war. Ich konnte nichts mehr sehen. Ich dachte echt, ich würde gleich sterben.«
»Wow. Das war bestimmt Furcht einflößend.«
»Ja. Aber dann war da auf einmal diese Seekuh. Sie tauchte aus dem Nichts auf. Sie schwamm unter mich und schubste mich an den Strand.«
»Das können sie?« Die Seekuh vor uns bewegte sich ein wenig im mondbeschienenen Wasser.
»Ich denke schon. Ich meine, es heißt, sie wären echt intelligent, aber als ich zu meiner Tante rannte und ihr erzählte, was passiert war, da sagte sie, sie hätte keine Seekuh gesehen. Ich ging zurück ans Wasser und schaute und schaute, aber ich konnte sie auch nicht mehr finden. Es war fast, als ob …« Er schüttelte den Kopf. »Es klingt verrückt.«
»Du glaubst, es war deine Großmutter?«
»Ich weiß, das ist verrückt.«
»Nein, ist es nicht. Ich glaube, das ist absolut möglich. Mir sind auch schon Sachen passiert, die unerklärlich waren.«
Und zwar erst vor Kurzem. Ich dachte an Kendra, wiesie genau in der richtigen Minute aufgetaucht war, um mich auf der Party zu retten. Es war, als könnte sie die Zeit anhalten. Einfach so.
»Echt? Ich habe das noch nie jemandem erzählt. Ich dachte, alle würden mich für verrückt halten.«
»Ich nicht.« Ich sah die Seekuh wieder an. Sie schien näher gekommen zu sein. »Ich glaube, dass es für alles einen Grund gibt. Wie damals auf dem Westerntag, als ich dauernd getroffen habe. Weißt du noch?«
Warner nickte.
»Ich kann sagen, dass ich noch nie im Leben etwas getroffen habe. Ich bin vollkommen unkoordiniert. Aber ich glaube, an dem Tag war das ein Zeichen. Ich sollte einfach mit dir reden.«
Ein Windstoß kräuselte das Wasser und raschelte in den Palmettos. Ich fröstelte, plötzlich war mir kalt, und Warner rückte näher. Er strich mir mit der Hand über den Arm. »Du meinst, das sollte geschehen? Der heutige Abend?«
Ich schaute ihn an. »Vielleicht.«
»Nur vielleicht?«
Seine Stimme war ein Flüstern. Er ergriff meine Hand. Ein Finger seiner Hand fühlte sich schwielig an, und ich fragte mich, ob das wohl vom Schreiben kam. Bei meiner Hand war das genauso. Ich rückte näher. »Ganz sicher.«
Ich wusste, dass er mich jetzt gleich küssen würde, und plötzlich wollte ich das nicht – nicht weil ich ihn nicht mochte. Ich mochte ihn. Ich hatte ihn immer gemocht.Sondern weil ich diesen Augenblick festhalten wollte, dieses Scheibchen Zeit, als die Nacht kühl war und von reflektierendem Mondlicht erleuchtet und die Möglichkeit eines Kusses voll unverbrauchter Verheißung zwischen uns hing. Danach würde jedes Ereignis in meinem Lebens anders sein, weil ich geküsst wäre. War ich dazu bereit?
Ich beschloss, dass ich bereit war.
Ich beugte mich zu ihm und er sagte: »Ich mag dich so sehr, Emma.« Ich sagte nichts, wollte meine Stimme nicht hören, denn in diesem Augenblick, in dem sich unsere Lippen trafen, war ich nicht mehr Emma. Ich war nicht mehr Emma, der blöde Bücherwurm, Emma, die dumme Gedichte schrieb und ihrer Schwester nicht das Wasser reichen konnte. Ich war ein anderes Mädchen.
Ich war ein Mädchen, das Jungs gern küssten.
˜ ˜ ˜
Als ich nach Hause kam, war ich mir ziemlich sicher, dass ich verliebt war. Ziemlich sicher, weil ich Warner ja eigentlich gar nicht so gut kannte. Und wenn ich gesagt hätte, dass ich ihn liebte, hätte es gleich zu kitschig geklungen. Vielleicht war er einfach eine Person meiner Träume, nicht realer als Dobbin oder Mr Darcy oder Rochester, diese Typen aus meinen Büchern, die ich so toll fand. Nicht realer als Lisette an jenem ersten Tag, als ich noch dachte, wir würden wie Schwestern werden.
Doch Warner wurde immer realer. Zumindest glaubteich das. Ein Junge aus Fleisch und Blut mit Schwielen an den Händen und Fehlern, ein Junge, der falsche Entscheidungen traf und sich an Freunde aus der Kindheit klammerte, die ihm über den Kopf gewachsen waren, ein Junge mit knochigen Schultern, der mich vor der Melodie der tosenden Brandung geküsst hatte.
Ich ging in das Bad zwischen Lisettes Zimmer und meinem. Meine Seite war ausnahmsweise einmal nicht abgeschlossen, und zu meiner Überraschung war es Lisettes Seite auch nicht. Ich ging die Tür zumachen. Dabei sah ich, dass sie schlafend auf dem Bett lag, sie war also nicht verhaftet worden. Sie schlief auf dem Rücken. Ich hatte mal gelesen, dass das bedeutete, dass man narzisstisch war.
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