Magie der Schatten: Roman (German Edition)
über die Schultern fielen. Auf der Brust ihres weißen Gewandes prangten mit Goldfaden gestickte Strahlen. Fünf an der Zahl, das Symbol des Ewigen. Ihr Gesicht verriet unverkennbar ihr Alter. Vierzig Jahre musste sie mindestens hinter sich haben, aber die meisten Falten zeigten sich nur, wenn sie lächelte, und dann lag ein Schimmer jenes Lichts darin, mit dem sie den Raum verzaubert hatte.
Raigar wartete in der Schlange vor dem Altar, bis er an der Reihe war. Aus einem der Gespräche hatte er den Namen Mihiko herausgehört.
»Das war Magie«, sagte er.
Die Priesterin verabschiedete die letzte Frau vor ihm mit einem Händedruck und wandte sich ihm lächelnd zu. »Das will ich nicht leugnen. Ihr müsst neu in der Stadt sein, wenn Ihr noch nicht damit vertraut seid.«
»Ja, ich bin heute zum ersten Mal hier. Es wundert mich nur, dass … verzeiht mir … dass in einer Ruine ein toter Gott verehrt wird.«
Mihiko, die Priesterin, rollte die auf dem Altar ausgebreiteten Schriften zusammen. Ihr Lächeln blieb auf ihrem Gesicht. »Für viele ist der Ewige zusammen mit seinem letzten Gesandten gestorben, und damit starb der Glaube an ihn. Für mich macht es keinen Unterschied, zu wessen Ehren dieses Gebäude errichtet wurde.« Mit klaren, blauen Augen sah sie den Besuchern nach, die die Kirche verließen. »Die Menschen sind immer hierhergekommen, um Hoffnung zu empfangen. Gerade in einem dunklen Land braucht es Hoffnung. Und die meisten der Leute in Zweibrück sind nur aus diesem einen Grund noch in der Stadt: weil sie mit ihrem Leben ein Stück Hoffnung im Schattenland sein wollen.«
»Deswegen also.« Raigar nickte. »Ich dachte, es gibt hier nur Alte und Schwache, die für eine Reise keine Kraft mehr haben.«
»Ihr werdet hier die stärksten Menschen des Kontinents finden. Sie fürchten die Schatten nicht.« Mihiko lud die Schriftrollen in eine Umhängetasche und stieg die Stufen des Altarraums hinunter.
»Schatten.« Raigar ging neben ihr her. »Was ist das für eine Magie, die Ihr hier gewirkt habt, um die Schatten zu vertreiben? Sie ist faszinierend.«
Die Priesterin streckte einen Arm in die Höhe. Das Licht begann von den Wänden herabzurinnen wie flüssiges Gold. »Feuermagie, mehr im Grunde nicht. Aber im Gegensatz zu den meisten meiner Zunft benutze ich meine Gabe nicht für Feuer und Zerstörung. Ich habe lange geübt, bis ich statt eines kleinen, unglaublich heißen Punkts eine Fläche aus Wärme und Licht erzeugen konnte. Das seht Ihr jetzt gerade vor Euch.« Langsam zog sich das Licht über die Bänke zurück und floss zu seiner Erschafferin. »Wenn Ihr länger in der Stadt seid, werdet Ihr noch einiges zu sehen bekommen. Der Winter naht, und damit der Abend des letzten Drachen. Ein trauriges Fest, das wisst Ihr sicher, aber wir feiern es hier besonders ausgiebig, da auch für uns jederzeit der letzte Abend anbrechen kann.«
Am türlosen Eingang stand Elarides. Das Licht huschte kurz über ihn und umgab jetzt nur noch Raigar und die Priesterin, als würde ein Sonnenstrahl durch eine finstere Wolkendecke auf sie herabscheinen.
»Für das Fest braucht Ihr sicher Hilfe bei den Vorbereitungen«, sagte Raigar. »Das wäre gut. Mein Name ist Raigar, und ich bin auf der Suche nach Arbeit.«
Kapitel 16:
LAVAR
Im Innenhof des Schlosses blühten die Blumen in endloser Zahl. Ihr Duft verflüchtigte sich jetzt, gegen Ende des Herbstes, mehr und mehr, doch das Schillern ihrer Farben blieb. Purpurne Blütenkelche malten eine Umrandung für die steinerne Fläche, auf der der Kaiser mit seinen Beratern saß. Die Blumen in den Beeten, die in ihren Ausmaßen eher Feldern glichen, erzeugten komplexe Muster aus Farben. Eine Welle aus goldgelben Blüten wogte hinein in ein Meer aus blutroten Blättern, und daraus erhob sich ein Bogen smaragdgrüner Blumen, die in ihrer länglichen Form an Schwertklingen erinnerten. Sogar an den Wänden rankten sich Pflanzen empor. Aus den grünen Stengeln stachen gewaltige blaue Blüten hervor wie Teile eines Nachthimmels. Ein leichter Wind wehte, und hier und dort zog er den Blumen ihre Blätter ab und wirbelte sie in Böen herum. Es war, als habe jemand Stücke aus dem Regenbogen gerissen.
Eines dieser Regenbogenstücke fing der Kaiser mit seiner knochigen Hand ein. »Diese Schönheit«, sagte er, öffnete die Finger, und das Blütenblatt glitt wieder in die Luft.
»Mein Herr?«, fragte einer der in Reichsuniform gekleideten Männer, die mit ihm um den runden Steintisch mit
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