Magie der Schatten: Roman (German Edition)
durchscheinend. Sie spuckte Blut und gelbes Zeug. Musste auf einer Trage mitgeschleppt werden. Tagelang ging das so.« Er holte Luft. »Irgendwann weigerten sich die Leute unserer Einheit, ihr Gewicht weiter mit sich zu tragen. Also blieb sie zurück. Ich auch. Wieder tagelang. Ich blieb bei ihr, und ich dachte jeden Morgen, ich würde neben einer Toten aufwachen. Aber sie blieb am Leben, bis ihr von diesem Fieber die Zähne und Haare ausfielen. Sie sagte nichts. Natürlich sagte sie nichts. Weil sie stark war und stark sein musste. Unbesiegbar. Aber der Schmerz saß in ihren Augen. Ich konnte es nicht länger ertragen, und ich wusste, dass auch sie es nicht konnte. Ich beendete ihr Leiden nach einer ganzen Woche. Viel zu spät.«
Sein Herz pochte gegen seinen Brustkorb.
»Und dann«, begann Elarides sehr langsam, »hast du dich dazu entschlossen, nie wieder jemanden zu töten?«
»Unsinn«, brummte Raigar. In ihm flackerten die Bilder noch immer. Bilder von den durchwachten Nächten im Wald, von einem zitternden Körper neben sich. Statt Vogelzwitschern das Klappern von Zähnen. Er vertrieb die Bilder. »Wir sind hier nicht in einem von deinen Ritterromanen. Ich habe zehn Jahre gebraucht, bis ich nicht mehr verleugnen konnte, dass ich das Gleiche tue wie der Mann, der meine Mutter umgebracht hat. Aber dann ist es mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen.« Er starrte durch das Rosettenfenster in die sich herabsenkende Dunkelheit. »Langweilige Geschichte, oder?«, sagte er etwas zu forsch. »Aber du hast gefragt.«
»Gar nicht langweilig, sondern traurig.«
»Vielleicht. Auch Brakas hätte dir diese Geschichte erzählen können. Er war mit mir dort, fast bis zum Ende. Den Tag, an dem meine Mutter getroffen wurde, hat auch er nicht vergessen. Wir nannten ihn Tag der fliegenden Steine , weil die Kanonen der Piraten ins steinige Ufer geschossen und dabei ganze Felsen in die Höhe gesprengt haben. Egal. Ich habe jetzt genug von mir erzählt.« Er wickelte die gerissenen Verbände wieder um seine Hand und verknotete sie notdürftig. »Was ist mir dir? Hast du zumindest ein Zimmer bekommen, oder enthält Vicold dir dein eigenes Gold vor?«
»Doch, ein Zimmer habe ich, auch neue Kleider. Die fallen nicht so auf. Ich wüsste auch gar nicht, wozu ich das ganze Gold hier jetzt noch bräuchte, wenn ich ehrlich bin. Wir haben es zwar daheim in den Laderaum gepackt, aber ich wusste überhaupt nicht, wie viel das wirklich gewesen ist. Als ich in der Taverne mein Frühstück mit einem Goldstück bezahlen wollte, hat mich die Kellnerin angesehen, als wäre ich ein Pferd. Dann habe ich so viel Wechselgeld zurückbekommen, dass die Münzen kaum in meine Hand gepasst haben.«
»Am Ende lernst du bei uns sogar noch etwas Nützliches.« Raigar streckte die Beine aus und rutschte auf der Bank etwas tiefer. Die Jagd war vorbei, vorerst. Damit hatte Vicold recht gehabt.
»Das passt. Der Sinn meiner ganzen Reise war, dass ich etwas lerne. Deshalb hat mein Vater mich nach Weigrund geschickt, und sonst ist er sehr darauf bedacht, dass ich innerhalb der Schlossmauern bleibe.«
Raigar schüttelte den Kopf. »Wenn du nie aus dem Schloss gekommen bist, hat dich die Reise nicht zermürbt?«
»Eigentlich nicht. Natürlich war sie lang, aber … oh. Du meinst den anderen Teil.« Schlagartig wurde er ernst. »Ich habe dir nicht verziehen, wenn du das denkst.«
»Das denke ich nicht.«
Der junge Mann griff sich an den Kopf, als plage ihn ein plötzlicher Schmerz. »Die ersten Tage dachte ich, ich würde sterben. Dann dachte ich, dass ich den Verstand verlieren würde. Und ich habe ihn nur behalten, weil ich mich in irgendeiner Ecke meiner Gedanken versteckt habe.«
»Das ist der beste Weg gewesen.«
»Die Demütigungen waren irgendwann nicht mehr so schlimm, auch der Dreck nicht. Aber ich wusste nicht, wann das alles aufhört.«
»Und ich weiß nicht, ob es jetzt aufgehört hat«, sagte Raigar dunkel.
»Die Männer haben sich ausgetobt. Und wenn wir wieder losziehen müssen, dann werde ich dabei zusehen, wie ihr genauso dreckig werdet wie ich.«
»Dass du überhaupt daran denkst. Wenn ich du wäre, würde ich jetzt abhauen. In der Nacht, wenn alle schlafen.«
»Zurück nach Arland? Für wen wird man mich dort halten? Für einen Prinzen aus dem Südreich oder für einen jungen Mann, der mit den flüchtigen Söldnern geritten ist? Ich stecke hier genauso fest wie eure Bande.«
»Wird dein Vater nicht auch Truppen entsandt haben, um dich
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