Magie der Schatten: Roman (German Edition)
zurückzuholen?«
»Ja, vielleicht. Aber wann werden sie hier sein? Weiders Soldaten haben einen Vorsprung von Wochen. Nein, ich werde hierbleiben.«
Raigar legte ihm eine bandagierte Hand auf das Bein. »Du bist mutig, Junge. Du erkennst die Dinge, wie sie vor dir liegen. Ich würde einiges geben für deine Geistesstärke. Einmal habe ich einen Abschnitt aus den Schriftrollen des Ewigen gelesen, eine Art Gebet, und ich glaube, es ging ungefähr so: Gib mir den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenheit, die Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen. Das Südreich wird einst einen guten Herrscher bekommen, Elarides.«
»Ich rede mir ein, dass du auch ein guter Kerl bist. Aber warum du den Überfall auf meine Kutsche befohlen hast, verstehe ich nicht.«
»Ich hatte die Wahl, wer für unsere Vorräte aufkommen muss. Ein Adliger mit seinem Vermögen oder viele Bauern mit ihrer Habe und ihrem Leben. Ich weiß nicht, ob es die richtige Entscheidung war. Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt einen Unterschied macht, ob ich ein scharfes oder ein stumpfes Schwert mit mir herumtrage.«
Heute, zum Beispiel.
Elarides hob die Mundwinkel zu einem halben Lächeln. »Es macht keinen Unterschied, du kämpfst doch ohnehin mit deinen Fäusten.«
Raigar versuchte, das Lächeln zu erwidern, aber es gelang ihm nicht.
Als er aufblickte, saßen Menschen in den Bänken um ihn herum, und noch mehr strömten durch den Eingang nach. Leises Gemurmel erfüllte den offenen Raum.
Elarides drehte sich in der Bank herum. »Was passiert denn hier?«
»Ich verstehe es auch nicht«, sagte Raigar. »Am Tag, als der letzte Drache gestorben ist, da sollen viele Priester aus Verzweiflung selbst Hand an ihre Kirchen gelegt und sie zerstört haben. Das würde diese Ruine inmitten einer unversehrten Stadt erklären. Weshalb die Menschen sich noch in die Ruine setzen, erklärt es aber nicht.«
Elarides schlang die Arme um seinen Körper. »Nein, es ist nämlich bitterkalt hier, mit halben Wänden und ohne Decke …«
Die Bänke füllten sich langsam, und in immer größeren Gruppen betraten Menschen das Gebäude. Raigar musste mit dem Jungen zur Seite rücken, um Platz zu machen. Die Dunkelheit des Abends senkte sich immer tiefer um das Gebäude. Ein sternenklarer Himmel bildete jetzt die Decke.
Das Raunen in den Bänken verstummte allmählich. Eine Gestalt schritt langsam über den Mittelgang auf den Altar zu. In der Dunkelheit hoben sich Schriftrollen und gewellte Pergamente von dem Tisch ab. Die Gestalt stellte sich hinter den Altar, und alles schwieg.
Ein schwaches Licht hüllte den Altar ein, ohne dass es eine Quelle dafür gegeben hätte. Das Leuchten floss langsam über den Boden, wie Sonnenlicht, das sich hinter Wolken versteckt hatte, hüllte die Bankreihen ein und kroch die Wände hinauf. Es erreichte die Bank vor Raigar. Eine wohlige Wärme breitete sich nun aus. Sie schlüpfte durch die Kleider und legte sich direkt auf die Haut. Ahs und Ohs gingen durch die Reihen. Elarides legte die Hände, mit denen er seine Brust gegen die Kälte umschlungen hatte, auf die Beine.
Das Licht schloss den ganzen Raum ein, bis in die höchste Spitze der Ruinen. Vorn am Altar bewegte die Frau die Lippen, aber sie sprach nicht.
»Eine Zauberin«, sagte Raigar.
» Sie macht das?«
Er nickte.
In der wohligen Wärme öffneten die Besucher ihre Mäntel und nahmen Schals und Tücher ab. Die Priesterin begann zu sprechen, während sie ein ausgerolltes Pergament in der Hand hielt.
Sie saßen zu weit hinten, um die einzelnen Worte genau zu verstehen, obwohl die Menschen schwiegen. Aber das warme Licht hielt den ganzen Raum in seinem Bann. Raigar schloss seine Lider. Nach zwei Wochen der endlosen Jagd fand er endlich Ruhe, auch wenn es nur kurz war.
Eine halbe Stunde verging, da erhoben sich die Menschen und sangen ein Lied, das er nicht verstand, aber er erhob sich ebenfalls und bewegte die Lippen zu dem Klang. Warme, freundliche Worte, die man nicht verstehen musste, um ihre Bedeutung zu erkennen.
Als das Lied geendet hatte, verließen die Menschen das Gebäude in dem gleichen Strom, in dem sie es betreten hatten. Raigar wartete, bis seine Bank sich geleert hatte, dann ging er außen um die ihm entgegenströmende Menge herum.
Die Priesterin stand an ihrem Platz und sprach mit Leuten, die sich in einer Reihe vor ihr aufgestellt hatten.
Sie hatte lange, braune Locken, die ihr
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