Magie der Sehnsucht - Roman
sich so elend fühlte, wollte sie ihn nicht mit einem Bericht über den Besuch seiner Mutter belasten. In seinem Leben war er oft genug verletzt worden, und sie würde ihm kein neues Leid zufügen. »Bist du hungrig?«
»Nein.«
Sie holte ein Buch und legte sich zu ihm. Mit sanfter Stimme las sie ihm den Roman vor. Immer wieder unterbrach sie die Lektüre und kühlte seine erhitzte Haut mit einem feuchten Lappen.
In dieser Nacht fand er sehr lange keinen Schlaf. Er spürte Graces warmen Körper an seiner Seite und roch ihren süßen Blumenduft. Mit allen Sinnen sehnte er sich nach ihr, seine bebenden Finger umklammerten die silbernen Fesseln. Verzweifelt bekämpfte er das Dunkel, das ihn einzuhüllen drohte, dem er nicht erliegen wollte.
Es widerstrebte ihm, die Augen zu schließen, auch nur eine einzige Sekunde zu versäumen, die er mit Grace verbrachte, solange er noch bei klarem Verstand war.
Wenn er vor der Finsternis kapitulierte, würde er vielleicht nicht mehr erwachen, bevor er in das Buch zurückgekehrt war – in die Einsamkeit seiner Gefangenschaft. »Ich will sie nicht verlieren«, wisperte er. Allein schon der Gedanke zerriss ihm fast das Herz.
Die Uhr im Flur schlug dreimal. Vor ein paar Minuten war Grace eingeschlummert. Ihr Kopf lag auf seiner Brust, ihre Atemzüge streichelten ihn, ihr Haar kitzelte seine Haut. Was würde er dafür geben, wenn er sie berühren dürfte …
Schließlich fielen ihm die Augen zu. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten überließ er sich freiwillig einem Traum. Er träumte von Nächten mit Grace, von Tagen, die sie mit ihrem Gelächter verzauberte. Von einem Tag, an dem er sie so lieben konnte, wie sie es verdiente, an dem er frei wäre, an dem er sie ungehindert glücklich machen würde, in einem gemeinsamen Heim.
Und er träumte von Kindern mit fröhlichen grauen Augen und übermütigem Lächeln.
Von alldem träumte er immer noch, als der Morgen anbrach. Um sechs Uhr erwachte Grace und küsste ihn. Welch eine Tortur …
»Guten Morgen«, flüsterte sie.
»Guten Morgen.«
Besorgt musterte sie seinen verschwitzten Körper und die Handschellen. »Müssen wir das wirklich ertragen? Soll ich dich nicht für eine kleine Weile freilassen?«
»Nein!«, stieß er hervor.
Sie griff zum Telefon und rief Beth an. »In den nächsten Tagen komme ich nicht in die Praxis. Würdest du einige meiner Patienten übernehmen?«
»Gehst du nicht arbeiten?«, fragte Julian verwundert, sobald sie aufgelegt hatte.
»Glaubst du, ich lasse dich hier allein?«
»Ich bin okay.«
Da starrte sie ihn an, als hätte er seinen Verstand bereits verloren. »Und wenn etwas passiert?«
»Was denn?«
»Zum Beispiel könnte das Haus abbrennen. Oder jemand bricht ein. Wer weiß, was ein unbefugter Eindringling alles anrichten würde, während du hilflos im Bett liegst!«
Jetzt erhob er keine Einwände mehr, und er fühlte sich erleichtert, weil sie bei ihm bleiben würde.
Am Nachmittag sah sie immer deutlicher, welche Qualen ihm der Fluch zufügte. Seine gespannten Armmuskeln bebten, er sprach nur selten, und wenn er sich dazu aufraffte, presste er die Worte zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
Trotzdem lächelte er sie manchmal an, zärtlich und ermutigend. Grace wusch ihn regelmäßig mit einem feuchten kalten Lappen, aber jedes Mal begann sein Körper schon nach wenigen Minuten wieder zu glühen.
Als der Abend dämmerte, sank er ins Delirium.
Verzweifelt beobachtete sie, wie er sich hin und her
wand und einen unsichtbaren Peiniger beobachtete, der eine Peitsche über ihm zu schwingen schien. Immer heftiger bewegte er sich, und sie fürchtete, das Bett würde entzweibrechen.
»Das halte ich nicht mehr aus«, wisperte sie, lief die Treppe hinab und rief Selena an.
Eine Stunde später ließ sie Selena und deren Schwester Tiyana herein.
Mit pechschwarzem Haar und blauen Augen glich Tiyana ihrer Schwester kein bisschen. Sie war eine der wenigen weißen Voodoo-Hohepriesterinnen und besaß einen Laden, in dem sie magische Waren verkaufte. Jeden Freitagabend führte sie Touristen über den Friedhof.
»Vielen Dank, dass ihr gekommen seid«, seufzte Grace und schloss die Tür hinter den beiden.
»Kein Problem«, erwiderte Selena.
»Wo ist er?«, fragte Tiyana, die ein schlichtes braunes Kleid trug. Unter ihrem Arm steckte eine Trommel.
Grace führte die Besucherinnen nach oben.
Bei Julians Anblick blieb Tiyana wie angewurzelt stehen. Krampfhaft wand er sich auf dem Bett umher und
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