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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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runzelte ärgerlich die Brauen, da raunte er fast lautlos: »Ja. Und sicherlich geniale. Denn niemand versteht von Poesie mehr als er.«
    Diese Antwort kam ihr sonderbar vor.
    »Was bedeutet ›sicherlich‹?«
    »Er zeigt seine Gedichte keinem. Die seien, sagt er, nicht für Menschen gemacht, und vor seinem Weggang werde er sie alle vernichten.«
    »Wie schade!« entfuhr es ihr lauter als nötig.
    Prospero blickte wieder wortlos zu der Besucherin.
    »Ich habe verstanden«, sagte er zu Loreley und lächelte zärtlich und traurig. »Ja, verstanden.«
    Sie strahlte, und der Doge wandte sich einem akkuraten und stillen Männlein mit Kneifer und Spitzbart zu.
    »Horatio, du hast versprochen, heute endlich Gedichte mitzubringen. Du kommst nicht drum herum. Du weißt doch, daß die BRAUT nur Dichter zu sich läßt.«
    »Horatio ist Arzt«, erklärte Petja. »Richtiger, Prosektor – er zerschneidet Leichen in der Anatomie. Hat den Platz von Lanzelot eingenommen.«
    »Und was ist mit Lanzelot geschehen?«
    »Er hat sich vergiftet. Und hat mehrere Leute mit in den |46| Tod gezogen«, antwortete Petja rätselhaft, aber zum Nachfragen war nicht die Zeit, denn Horatio schickte sich an zu deklamieren.
    »Eigentlich beschäftige ich mich zum erstemal mit Poesie … Ich habe einen Leitfaden zum Dichten studiert und mir große Mühe gegeben. Und dies, hm, ist das Ergebnis.«
    Er räusperte sich verlegen, richtete den Schlips und zog aus der Tasche seines Gehrocks ein gefaltetes Blatt. Dann wollte er anfangen, meinte aber wohl, sich ungenügend erklärt zu haben.
    »Ein Gedicht aus meinem Berufsleben sozusagen … Sogar Fachausdrücke kommen vor … Es reimen sich nur die zweite und vierte Strophe … Schwer, wenn man’s nicht gewohnt ist … Nach der verehrten, hm, Löwin der Ekstase werden meine Verslein natürlich erst recht stümperhaft wirken, aber … Also, ich lege sie dem strengen Gericht vor. Das Gedicht heißt ›Epikrise‹.«
    Epikrise
     
    Wenn scharf zerschneidet das Skalpell
    Die Bauchdecke der jungen Dame,
    Weil diese hundert Nadeln schluckte
    Auf Grund von einem Liebesdrama,
     
    Soll man da weinen oder lachen,
    Von seltsamem Gefühl durchbraust:
    Denn vor dir dieser Menschenmagen
    Sieht wie ein nasser Igel aus.
     
    Und wenn man dann bei einem Junker
    Eröffnen muß die Schädeldecke,
    |47| Weil er nach dem Bordellbesuch
    Sein eignes Urteil schon vollstreckte,
     
    Entdeckt man in der toten Masse
    Das, was man suchte. Wunderbar:
    Ein Stückchen Blei im Hirne schimmernd
    Wie eine Perle leuchtend klar.
    Der Vortragende stockte, knüllte das Blatt zusammen und steckte es ein.
    »Ich wollte noch die Lungen einer ertrunkenen Frau beschreiben, aber daraus ist nichts geworden. Nur eine Zeile ist mir eingefallen: ›In der blaugrauen Porenmasse …‹, weiter ging’s nicht … Nun, meine Herrschaften, sehr schlecht, was?«
    Alle schwiegen und warteten auf das Verdikt des Vorsitzenden (der als einziger der Anwesenden noch immer saß).
    »›Epikrise‹, das ist ja wohl der Abschluß einer ärztlichen Diagnose«, sagte Prospero nachdenklich. »Hier nun
meine
Epikrise: Gedichte schreiben kannst du nicht. Doch du bist wirklich verzaubert von der Vielgesichtigkeit des Todes. Wer ist der nächste?«
    »Erlauben Sie mir, Lehrer!« Ein breitschultriger großer Kerl hatte die Hand gehoben; in seinem derben Gesicht nahmen sich die kindlich naiven runden Augen seltsam aus. Was soll der wohl mit der EWIGEN BRAUT, dachte Colombina verwundert. Der sollte Flöße über die Angara lenken.
    »Der Doge hat ihn Caliban getauft«, wisperte Petja und hielt es für nötig zu erläutern. »Das ist aus Shakespeare.« (Colombina nickte: natürlich aus Shakespeare). »Der Mann |48| arbeitet jetzt als Buchhalter in einer Kredit- und Darlehensgenossenschaft. Früher war er Rechnungsführer in der Freiwilligen Flotte und hat die Ozeane befahren; wie durch ein Wunder hat er einen Schiffbruch überlebt und meidet seitdem das Meer.«
    Colombina lächelte zufrieden über ihre physiognomischen Fähigkeiten – das mit den Flößen war gar nicht so falsch gewesen.
    »In geistiger Hinsicht ein Nichts, ein Infusorium«, lästerte Petja und fügte neidisch hinzu: »Aber Prospero bevorzugt ihn.«
    Caliban schritt, laut auftretend, zur Mitte des Zimmers, setzte einen Fuß vor und schrie mit schallender Stimme sehr sonderbare Verse:
    Insel des Todes
     
    Im Rauschen des Ozeans wiegen
    Sich blaue Meereswogen.
    Sehn einsam eine Insel liegen,
    Auf die Gespenster

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