Magier von Moskau
zogen.
Die einen liegen im Sand,
Wo Krabben über sie kriechen.
Die andern gehn traurig zum Strand,
Und suchen ihr Fleisch, die Siechen.
Kein Fleisch auf den Knochen mehr,
Es blieben nur die Skelette.
Verbreiten Furcht um sich her
An jener grusligen Stätte.
|49| Ich schlafe nicht in der Nacht,
Am Tag klappern mir die Zähne.
Hab nur an Gespenster gedacht,
Zu ihnen treibt hin mich mein Sehnen.
Wir ziehen wie einst um die Riffe,
Und fletschen die Zähne dabei,
Wie früher locken wir Schiffe
Auf zackiges Felsgestein.
Colombina hätte fast herausgeprustet, aber Caliban deklamierte seine holprigen Strophen so gefühlvoll, daß ihr das Lachen verging – bei der letzten Strophe lief es ihr sogar kalt über den Rücken.
Sie warf einen Blick auf Prospero und zweifelte nicht, daß der gestrenge Richter, der es sogar gewagt hatte, Loreley Rubinstein zu kritisieren, das klägliche Machwerk in der Luft zerreißen würde.
Aber keineswegs!
»Sehr gut!« verkündete der Doge. »Diese Expression! Man hört förmlich das Rauschen der Ozeanwellen und sieht die Schaumkämme. Mächtig. Eindrucksvoll.«
Caliban strahlte vor Glück, und das Lächeln veränderte sein quadratisches Gesicht völlig.
»Ich sag ja, sein Liebling«, murmelte ihr Petja ins Ohr. »Was findet er nur an diesem Einzeller? Ah, jetzt ist mein Kommilitone Nikifor Sipjaga an der Reihe. Er hat mich hier eingeführt.«
Es war der unschöne, pickelige junge Mann, mit dem Petja kurz zuvor gesprochen hatte.
Der Doge nickte gönnerhaft.
»Laß hören, Abaddon.«
|50| »Gleich deklamiert er ›Der Engel des Abgrunds‹«, bemerkte Petja. »Ich hab’s schon gehört. Es ist sein bestes Gedicht. Ich bin gespannt, was Prospero dazu sagt.«
Das Gedicht ging so:
Engel des Abgrunds
Born des Abgrunds aufgerissen,
Trockne, heiße Dunkelheit.
Dann im Takt, wie Eisenklirren,
Strömen Heuschrecken herbei.
Wer als Göttlichstes auf Erden
Nie die Traurigkeit verstand,
Wird sogleich gestochen werden,
Ist im Augenblick erkannt.
Wenn der Silberhuf erklungen,
Stampft die Erde, wem er droht.
Nicht erschlagen, doch bezwungen
Rufen Menschen nach dem Tod.
Und der Preis, ersehnt in Kämpfen,
Gleitet wie ein Traum davon.
Flieht der Tod, blickt aus den Dämpfen
Höllenengel Abaddon.
Diese Strophen gefielen Colombina sehr, aber vielleicht hielt Prospero sie für mißlungen?
Der Hausherr sagte nach einigem Zögern: »Nicht schlecht, gar nicht schlecht. Die letzte Strophe ist gelungen. Aber der Reim ›Tod‹ – ›droht‹ ist schon sehr abgegriffen.«
|51| »Quatsch!« tönte plötzlich ärgerlich eine sonore Stimme. »Reime auf ›Tod‹ können nicht abgegriffen sein, ebenso wenig wie der TOD selbst! Reime auf ›Liebe‹, die sind abgeschmackt und von klebrigen Händen begrabbelt, am TOD aber haftet kein Schmutz!«
Der die Meinung des Dogen für »Quatsch« erklärte, war ein hübscher Jüngling, dem Aussehen nach noch ein Junge – groß, schlank, mit launisch verzogenem Mund und fiebriger Röte auf den glatten Wangen.
»Es geht auch gar nicht um die Frische des Reims, sondern darum, ob er treffend ist!« fuhr er nicht ganz schlüssig fort. »Der Reim ist das Mystischste auf der Welt! Er ist wie die Rückseite einer Münze! Er kann Erhabenes lächerlich machen und Lächerliches erhaben! Zwischen den Erscheinungen und den Lauten, die sie bezeichnen, besteht ein besonderer Zusammenhang. Der größte Erstentdecker wird der sein, der in die Tiefe dieses Sinns vordringt.«
»Das ist Gdlewski.« Petja zuckte seufzend die Achseln. »Er ist achtzehn, noch nicht fertig mit dem Gymnasium. Prospero meint, er sei so begabt wie Rimbaud.«
»Wirklich?« Colombina sah den aufbrausenden Jungen aufmerksamer an, fand aber nichts Besonderes an ihm. Außer daß er hübsch war. »Wie ist sein Beiname?«
»Er hat keinen. Einfach Gdlewski, das ist alles. Er möchte nicht anders genannt werden.«
Der Doge war dem Unruhestifter keineswegs gram, er sah ihn mit väterlichem Lächeln an.
»Schon gut. Theoretisieren ist nicht deine Stärke. Was reimt sich denn in deinem Gedicht auf ›Tod‹?«
Der Junge schwieg mit blitzenden Augen.
»Nun, trage vor.«
|52| Gdlewski schüttelte den Kopf, so daß ihm eine helle Strähne in die Augen fiel, und erklärte:
»Ohne Überschrift.«
Bin Schatten unter Schatten, von jenen Spiegelungen,
Die stets umhergeirrt auf ihrem Schicksalspfad.
Wenn Prophezeiung nachts im Liedgesang
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