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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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erklärt, Nahrung zu sich zu nehmen. Die beiden anderen blieben fest und starben.«
    Der Doge preßte sich gegen die Sessellehne, und der Stotterer fuhr gnadenlos fort: »Beim zweitenmal war es noch schlimmer. Im April 1881 versuchten Sie, sich selbst zu verbrennen, weil der Kommandant Sie für Ihre Respektlosigkeit gegenüber einem Inspektor zur öffentlichen Auspeitschung verurteilte. Sie beschafften sich irgendwie |130| Streichhölzer und gossen aus einer Lampe Petroleum auf Ihre Gefängniskluft, trauten sich aber nicht, sie anzuzünden. Nachdem Sie dann doch die körperliche Züchtigung erdulden mußten, flochten Sie aus Fäden eine Schlinge, befestigten sie an einer Gitterstange und hingen schon, aber im allerletzten Moment mochten Sie dann doch nicht sterben. Sie bekamen den Fenstervorsprung zu fassen und schrien laut um Hilfe. Die Aufseher holten Sie herunter und steckten Sie in den Karzer … Fortan, bis zu Ihrer Amnestierung aus Anlaß der Zarenkrönung, verhielten Sie sich mucksmäuschenstill und unternahmen keine weiteren Selbstmordversuche. Sie haben ein sonderbares Verhältnis zu dem von Ihnen vergötterten TOD, Sergej Irinarchowitsch.«
    Ich nehme an, daß Sie, Wissarion Wissarionowitsch, über Ihre Kanäle unschwer die Darlegungen des Stotterers auf ihre Richtigkeit überprüfen können, aber ich hege nicht den geringsten Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit – der Anblick des Dogen genügte vollauf. Er schlug die Hände vors Gesicht, schluchzte ein paarmal auf und sah jammervoll aus. Wenn die Anwärter ihren gottgleichen Lehrer in diesem Moment hätten sehen können, wären sie außer sich gewesen. Mir ging durch den Sinn: Wie konnte der TOD einen solchen Jammerlappen zu seinem Werkzeug wählen? Hätte sich da kein Würdigerer finden lassen? Ich bekam sogar Mitleid mit dem Sensenmann.
    Wieder trat eine längere Pause ein. Der Doge schniefte und schneuzte sich fortwährend, und der Stotterer wartete geduldig. Endlich hatte sich Blagowolski (sonderbar, ihn mit diesem Namen zu benennen) wieder in der Gewalt und sagte: »Sie sind von der Polizei? Natürlich, woher wüßten Sie sonst … Doch nein, Sie können nicht von der Polizei sein, dann hätten Sie nicht so leichtfertig mit dem Tode gespielt, |131| als Sie die Revolvertrommel drehten. Das ist schließlich mein eigener Revolver, und geladen war er mit richtigen Kugeln, wer wüßte das besser als ich. Wer sind Sie? Aber möchten Sie nicht Platz nehmen?«
    Er zeigte auf einen schweren Eichensessel.
    Der Stotterer schüttelte den Kopf und lachte auf. »Sagen wir, ich repräsentiere den Geheimklub der ›Liebhaber des Lebens‹. Nehmen Sie an, ich sei hergeschickt, um zu prüfen, ob Sie die Regeln des ehrlichen Spiels auch nicht verletzen. Ich bin ein entschiedener Gegner des Selbstmords, mit Ausnahme einiger Sonderfälle, bei denen es eigentlich kein Selbstmord ist. Gleichwohl meine ich im Gegensatz zu den christlichen Religionslehrern, daß jeder Mensch die Freiheit hat, über sein Leben zu verfügen, und wenn er beschließt, sich zu töten, ist das sein gutes Recht. Aber nur dann, Sergej Irinarchowitsch, wenn er den verhängnisvollen Entschluß selbständig gefaßt hat, ohne dazu genötigt zu werden. Etwas ganz anderes ist es, wenn einem sensiblen, leicht zu beeinflussenden jungen Menschen die Schlinge eingeseift, beflissen der Revolver zugesteckt oder der Giftpokal hingeschoben wird.«
    »Oh, wie Sie sich in mir irren!« unterbrach der Doge in höchster Erregung den Stotterer (der übrigens während seiner soeben zitierten Rede kein einziges Mal gestottert hatte). »Ich bin ein schwacher, sündiger Mensch! Ja, ich habe wahnsinnige, schreckliche Angst vor dem Tode! Mehr noch, ich hasse ihn! Er ist mein schlimmster Feind. Ich bin für immer und ewig versengt, vergiftet von seinem stinkenden Atem, den er mir dreimal ins Gesicht gehaucht hat! Von den ›Liebhabern des Lebens‹ haben Sie wohl bildlich gesprochen, aber wenn es solch eine Organisation tatsächlich gäbe, wäre ich ihr fanatischstes Mitglied!«
    |132| Der Stotterer schüttelte ungläubig den Kopf. »Wirklich? Wie ist dann Ihre ganze Tätigkeit zu erklären?«
    »Eben damit, werter Herr! Ja, eben damit ist sie zu erklären! Ich habe den Zweikampf aufgenommen gegen das grausame, unersättliche Scheusal, das darauf aus ist, der Gesellschaft ihre saubersten, wertvollsten Kinder zu rauben. In letzter Zeit haben ja so viele, vor allem junge, unverdorbene Menschen Hand an sich gelegt! Das ist eine

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