Magier von Moskau
furchtbare Krankheit, eine Auszehrung der Seele, die wir dem übersättigten, vom Glauben abgefallenen Europa verdanken. Ich richte meine Schüler nicht zugrunde, wie Sie es aus Äußerlichkeiten schließen. Ich töte keine ungefestigten Seelen, sondern versuche sie zu retten!« Er ruckte nervös mit dem Kinn. »Hören Sie, könnten Sie sich nicht setzen? Ich habe Arthritis, und es ist mir verdammt beschwerlich, dauernd den Kopf in den Nacken zu legen.«
»Sie haben eine sonderbare Methode, ungefestigte Seelen zu retten«, sagte der Stotterer und nahm in dem Sessel Platz.
»Und ob sie sonderbar ist! Aber wirksam, höchst wirksam! Mein Klub der ›Liebhaber des Todes‹ ist eine Art Heilstätte für Gemütskranke, und ich bin sozusagen der Psychiater. Ich nehme ja als Mitglieder nicht romantische Jünglinge auf, die einer Modeströmung folgen und sich vor ihren Bekannten interessant machen wollen, sondern nur solche, die wirklich von der Idee des Todes besessen sind und schon den Revolver an die Schläfe gesetzt haben. In diesem gefährlichen Moment bemächtige ich mich ihrer Aufmerksamkeit und versuche, sie von dem verhängnisvollen Schritt abzubringen. Vor allem hole ich den potenziellen Selbstmörder aus seiner Isolierung und nehme ihm das Gefühl grenzenloser Einsamkeit. Der Verzweifelte sieht, daß es viele gibt, denen es genauso geht und sogar noch schlechter. Das |133| ist unheimlich wichtig! Wir Menschen sind nun mal so eingerichtet, daß es uns tröstet zu wissen – da ist jemand noch unglücklicher als wir. Die zweite prinzipielle Komponente meiner ›Behandlung‹ ist die Wiedererweckung der
Neugier
. Der selbstmordgefährdete Mensch soll aufhören, sich nur noch mit sich selbst zu beschäftigen, und statt dessen verwundert die Welt ringsum begucken. Dazu sind alle Mittel gut, bis hin zur Scharlatanerie. Ich verblüffe die Anwärter schamlos mit allen möglichen Tricks und wirkungsvollem Flitterkram.«
Der Doge zeigte auf sein spanisches Barett und den mittelalterlichen Dolch.
Der Stotterer nickte. »Nun ja, das Anzünden einer Kerze mit einer Klinge, die vorher in Phosphor getaucht wurde. Ganz alter Trick.«
»Oder das glühende Stück Kohle in der Hand, die vorher eingeschmiert wurde mit einem Gemisch von Eiweiß, Gummiharz und Stärke, was die Haut vorm Verbrennen schützt«, griff der Doge auf. »Alles ist gut, wenn es den Betreffenden nur beeindruckt und meinem Willen unterwirft … Oh, Sie brauchen gar nicht so überlegen zu lächeln! Sie denken, ich hätte mich verraten, mich verplappert, als ich vom Unterwerfen sprach. Glauben Sie mir, ich kenne meine Schwächen sehr genau. Ja, gewiß, neben meinem wichtigsten Anliegen, der Rettung Kranker, bereitet mir dieses Spiel auch viel Vergnügen. Ich will nicht verhehlen, daß es mir gefällt, Seelen zu beherrschen, daß es mich berauscht, angebetet zu werden und grenzenloses Vertrauen zu genießen, aber ich schwöre Ihnen, ich treibe keinen Mißbrauch mit der gewonnenen Macht. Ich erfinde die ausgeklügelten, in Wirklichkeit aber lächerlichen Riten nur zu dem Zweck, den potenziellen Selbstmörder zu mesmerisieren, ihn abzulenken, sein |134| Interesse für das ewige Geheimnis des Daseins zu wecken! Meine Beobachtungen haben ergeben, daß die Menschen nicht so sehr aus Leid oder Ausweglosigkeit auf den Gedanken der Selbsttötung kommen wie aus mangelndem Interesse am Leben, aus Langeweile! Wenn der wirkliche Grund der Selbstmordabsicht lediglich die Armut ist (und das ist er häufig), bemühe ich mich, solch einem Anwärter mit Geld zu helfen – auf möglichst taktvolle Art und Weise, die auch einen krankhaft stolzen Menschen nicht demütigt.« Hier stockte der Doge und breitete hilflos die Arme aus. Seine Finger streiften den Deckel eines bronzenen Tintenfasses in Form eines russischen Recken; er richtete den verrutschten Helm und streichelte ihn nervös. »Aber ich bin nicht allmächtig. Es gibt zu viele vernachlässigte, unheilbare Fälle. Oft, zu oft bewirken meine Kunstgriffe nichts. Meine Zöglinge sterben einer nach dem anderen, und jeder Verlust kostet mich ein paar Jahre meines Lebens. Und doch sehe ich, daß etliche kurz vor der Heilung sind. Wahrscheinlich ist Ihnen an dem heutigen Benehmen der Anwärter aufgefallen, daß der eine oder andere keineswegs aufs Sterben erpicht ist. Es sollte mich nicht wundern, wenn manch einer aus Furcht vor dem leidenschaftslosen Roulette gar nicht mehr kommt, und das wird ein wirklicher Sieg für mich sein.
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