Magier von Moskau
den Kutscher weggeschickt hatte – vom Gerüttel des Wagens auf dem Straßenpflaster hätte das Glas kaputtgehen können. Nun mußte auch ich mich von meinem Kutscher trennen, worauf ich unter vielen Vorsichtsmaßnahmen dem Objekt folgte.
Wie ich schon schrieb, war die Nacht nach dem abendlichen |181| Regen klar und mondhell, darum konnte ich die hohe Silhouette des Stotterers weithin sehen. Ich blieb hundertfünfzig Schritte zurück und trat in meinen Strümpfen lautlos auf, so daß er mich nicht bemerken konnte.
Wir gingen schrecklich lange – über eine Brücke, dann durch eine endlose Straße, deren Namen ich nicht weiß, dann vorbei am Kalantschewskaja-Platz und an den Bahnhöfen. Ich stieß mir die Füße an den Pflastersteinen und zerriß mir die Strümpfe, aber ich wollte unbedingt die Sache zu Ende bringen. Jetzt würde der unermüdliche Stotterer bestimmt nach Hause gehen. Ausgeschlossen, daß er mit einer so zerbrechlichen Last in den Händen noch irgendwelche Eskapaden plante.
Doch seine Adresse zu ermitteln, was vor allem der Sinn meiner Mission war, gelang mir nicht, denn im Sretenka-Viertel, in der Astscheulow-Gasse, kam es zu einem furchtbaren und geheimnisvollen Zwischenfall.
Ich hatte den Schritt beschleunigen müssen, denn der Stotterer war um eine Ecke gebogen, und ich fürchtete, ihn zu verlieren. Darum ließ meine Wachsamkeit nach, und als ich an einem Torweg vorbeikam, warf ich nicht mal einen Blick hinein. Doch da wurde ich plötzlich von hinten am Kragen gepackt – mit ungeheuerlicher, übermenschlicher Kraft, so daß ich fast die Bodenhaftung verlor. Ich hörte ein grausliches, das Blut vereisendes Zischen, und eine bösartige, pfeifende Stimme, die mir noch jetzt in der Erinnerung das Blut in den Adern gefrieren läßt, krächzte ein unbekanntes Wort, das wie eine Beschwörung klang. CHIKUSHOU! Ich würde viel darum geben, wenn ich wüßte, was es bedeutet. Im nächsten Moment traf meinen unglücklichen, nichts verstehenden Kopf ein grauenhafter Schlag, und das Bewußtsein verließ mich barmherzig.
|182| Als ich zu mir kam, lag ich in demselben Torweg. Wie ich auf meiner Uhr sah, war ich mindestens eine halbe Stunde bewußtlos gewesen. Um was für eine Heimsuchung es sich handelte, weiß ich nicht, aber ein Raubüberfall war es nicht, denn meine Geldbörse, die Uhr und alles übrige waren noch da. Vor Entsetzen schlotternd, lief ich zur Sretenka, hielt eine Nachtdroschke an und fuhr nach Hause.
Während ich jetzt diesen Bericht an Sie schreibe, stecken meine Füße in einer Schüssel mit heißem Wasser, und meinen Hinterkopf, wo sich eine riesige Beule gebildet hat, kühlt ein Eisbeutel. Die Füße sind blutig, und wahrscheinlich bin ich schrecklich erkältet. Von den zerrütteten Nerven rede ich gar nicht. Ich habe mich sofort hingesetzt, um Ihnen zu schreiben, denn ich habe Angst, mich schlafen zu legen, weil ich im Schlaf bestimmt wieder die entsetzliche pfeifende Stimme höre. Um die gestohlenen Stiefel tut es mir sehr leid, sie waren aus Ziegenleder und fast neu.
Und jetzt, sehr geehrter Wissarion Wissarionowitsch, da Sie alle Geschehnisse kennen, die ich Ihnen zu verdanken habe, stelle ich eine Forderung, die Sie, wenn Sie wollen, als ein Ultimatum betrachten können.
Ich verlange eine erschöpfende Darlegung der Gründe, warum sich Ihre »hochgestellte Persönlichkeit« für den Stotterer interessiert, wer der geheimnisvolle Herr eigentlich ist und was die ganze Teufelei zu bedeuten hat.
Gekränkt und verständnislos
ZZ
12. September 1900
|183| VIERTES KAPITEL
1.
Aus Zeitungen
ES GIBT MEHR DINGE IM HIMMEL UND AUF ERDEN …
Lawr Shemailo
Unwissenschaftliche Betrachtungen im Zusammenhang mit der Moskauer Selbstmordepidemie
Glauben Sie an Wissenschaft und Fortschritt?
Ich auch, mein Leser. Ich glaube von ganzem Herzen daran und bin stolz auf die Schöpfungen des menschlichen Genius, die uns den Weg ins zwanzigste Jahrhundert öffnen: Glühbirnen, Kinematograph und zehntausend Tonnen schwere Panzerschiffe.
Glauben Sie an Zauberer, den bösen Blick und den Teufel?
Natürlich nicht, sonst würden Sie nicht unsere aufgeklärte Zeitung lesen, sondern irgendein spiritistisches Blatt wie »Rebus« oder den »Blick in den Abgrund«. Und wenn ich, Lawr Shemailo, Ihnen sage, daß der Teufel tatsächlich existiert, werden Sie annehmen, daß Ihr gehorsamer Diener, der einer der gefährlichsten Geheimgesellschaften des Jahrhunderts auf der Spur ist, unter dem Einfluß
Weitere Kostenlose Bücher