Magier von Moskau
mystischer Hexerei den Verstand verloren hat und demnächst Patient der psychiatrischen Klinik wird oder, noch schlimmer, dem Beispiel der handelnden Personen seiner finsteren Artikel folgend, den Strick mit Seife einschmiert.
Gerüchte kriechen durch Moskau. Sie irritieren, lassen erschauern, |184| verlocken. In den vornehmen Salons, in Künstlerkreisen, tobt bei einer Tasse Tee eine Schlacht zwischen Materialisten und Mystikern. Gestritten wird laut, bis zur Heiserkeit. Wenn Kinder im Hause sind, wird flüsternd gestritten, doch nicht minder erbittert. Es entsteht der Eindruck, daß die Mystiker die Oberhand gewinnen, und immer öfter ertönt das geheimnisvolle Wort »Zeichen«.
Selbst Leute, die sich früher nicht für Poesie interessiert haben, deklamieren auswendig die nebulösen Gedichte der Selbstmörder, in denen die Rede ist von Sendboten in Weiß, einem heulenden Tier und dem Todesprinzen.
Schrecklich, höchst schrecklich. Aber wie interessant!
Könnte es sein, daß der TOD höchstselbst in all seiner Pracht, mit Sense und Leichengewand, durch die Straßen unserer friedlichen Stadt wandelt, in die Gesichter blickt und die
Seinen
mit einem geheimen Zeichen markiert? Oder sind das vielleicht Späße des Satans (nicht zur Nacht sei er erwähnt)?
Ich habe Sie erheitert, Sie schmunzeln. Und mit Recht – für alles gibt es eine Erklärung.
Die auszehrende Krankheit der
Liebe zur Finsternis
hat Hirne und Herzen erfaßt. Der Geist derer, die von der schrecklichen Seuche infiziert sind, saugt gierig den Atem der Dunkelheit ein, starrt in die Finsternis, sucht dort nach »Zeichen« und ist bereit, in jedwedem merkwürdigen und unerklärlichen Phänomen eine Aufforderung zu sehen, sich in die eisige Umarmung Seiner Majestät des TODES zu stürzen.
Und da ist es durchaus denkbar, bei einem Blick zum abendlichen Himmel in den Wolken die Umrisse eines Galgens zu erkennen, wie das dem 16jährigen F. widerfuhr, der höchstwahrscheinlich mit den »Liebhabern des Todes« nichts zu tun hatte (s. die Meldung »Selbstmord eines Gymnasiasten« in unserer Ausgabe vom 9. September); manch einer horcht zitternd auf das Heulen des Nachtwindes im Ofenrohr oder zuckt zusammen, wenn er eine Lautverbindung liest, die |185| sich auf »Tod« reimt. Noch nie hat Moskau ein solches Selbstmordbacchanal erlebt wie in den letzten Tagen. Gestern drei, vorgestern zwei, vorvorgestern vier, abgesehen von den Geretteten, deren Zahl gewiß noch zehnmal höher ist!
Schon fünf blutjunge dumme Mädchen haben sich im Gefolge von Loreley Rubinstein vergiftet, der die Erde kaum leicht werden dürfte, jedenfalls nicht unter der Begleitmusik der Verwünschungen, mit denen die Angehörigen der toten Mädchen die Dichterin überschütten.
Sicher, mit dem Verstand begreife ich sehr wohl, daß an allem die psychologischen Gebrechen der modernen Gesellschaft schuld sind, aber mein Gott, wie groß ist die Versuchung, dem Prinzen von Dänemark nachzusprechen: »Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt!«
Die gibt es ja wohl tatsächlich. Denn der TOD, meine Herrschaften, ist keine Chimäre und keine Zauberei, sondern eine wissenschaftlich festgestellte Tatsache. Vom Standpunkt der Physik ist er ein unerklärliches Verschwinden von Energie, was, soweit ich mich aus meiner Gymnasialzeit erinnere, dem Gesetz ihrer Erhaltung direkt zuwiderläuft. Wo bleibt denn die Lebensenergie im Moment des Todes? Kann sie nicht in veränderter Form zurückkehren? Und wenn eine Anomalie der Natur stattgefunden hat? Und wenn über Moskau eine unsichtbare, aber durchaus reale Wolke todbringender Energie schwebt?
Hat es nicht auch schon früher so etwas gegeben? Sind nicht aus unbekannten Gründen ganze Städte untergegangen, als wäre ihnen der Lebensquell abhanden gekommen? Man denke an den Niedergang und Verfall der antiken Städte Babylon, Athen, Rom. Die Historiker führen das auf Barbareneinfälle, wirtschaftliche Zerrüttung oder eine geistige Krise zurück. Womöglich aber erklärt sich alles ganz anders? Jede sehr alte und dicht bevölkerte Stadt, in der in den langen Jahrhunderten ihrer Existenz Hunderttausende und Millionen Menschen aus dem Leben gingen, erstickt in der engen Umklammerung ihrer Gräber und |186| Friedhöfe. Tote Gebeine sind überall: auf den Gottesackern, auf dem Grund der Flüsse, unter den Fundamenten der Häuser, unter den Füßen der Passanten. Die Luft ist zusammengepreßt von den letzten Seufzern der
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