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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Gestorbenen und ihrer ausgeströmten Lebensenergie. Darum spürt ein Dörfler, der zum erstenmal in die alte Hauptstadt kommt und ihre Miasmen einatmet, sich vom Ersticken bedroht.
    Alle Einwohner Moskaus aus sieben Jahrhunderten, das sind mehr Tote als Lebende. Sie und ich sind in der Minderheit, meine Herrschaften. Nimmt es also Wunder, daß es einige – viele – von uns drängt, sich der Mehrheit anzuschließen? Das Zentrum der Energie ist dort und nicht hier.
    Wissenschaftler werden sagen, daß ich Unsinn rede. Durchaus möglich. Aber vor hundert oder zweihundert Jahren empfanden die Vorgänger unserer hochgelehrten Akademiemitglieder unsichtbare Erscheinungen wie Magnetismus oder Elektrizität als Teufelszeug, und der Anblick eines Automobils würde sie entsetzt haben, ganz zu schweigen von Röntgenstrahlen oder beweglichen Bildern. Woher sollen wir wissen, geehrte Doktoren und Magister, ob nicht die Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts Energieformen entdeckt, die wir mit unseren Sinnesorganen und unvollkommenen Geräten nicht erkennen können?
    Die Antwort liegt in der Zukunft.
    Was den bescheidenen Reporter Shemailo angeht, der nicht besser in die Zukunft zu sehen vermag als Sie, so können Sie sicher sein, geehrte Leser des »Kurier«, daß er den »Liebhabern des Todes« auf der Spur bleibt. Sie werden auch künftig als erste von meinen Beobachtungen und Entdeckungen erfahren.
    »Moskauer Kurier« vom 13. (26.) September 1900, S. 2

|187| 2.
Aus dem Tagebuch von Colombina
    Unberechenbar und launisch
     
    »Ich weiß gar nicht, wozu er mich braucht, jedenfalls versucht er nicht, mir den Hof zu machen, dabei verbringen wir eine Menge Zeit miteinander. Angeblich helfe ich ihm, die Umstände des Todes der armen Ophelia und auch die anderen geheimnisvollen Vorfälle in unserem Klub aufzuklären.
    Manchmal schwant mir jedoch, daß er mich bevormunden will wie ein Dummchen, wie ein Provinzgänschen, das in die gefährliche Großstadt geraten ist. Geradezu lächerlich. Ich komme zwar aus der Provinz, aber ein dummes Gänschen kann man mich nicht nennen. Außerdem bin ich längst nicht mehr die, die ich mal war. Ich habe nicht mehr das geringste Verständnis für die gewöhnlichen, langweiligen Menschen mit ihren gewöhnlichen, langweiligen Sorgen, und das bedeutet, daß ich selbst nicht mehr gewöhnlich und langweilig bin.
    Und doch freue ich mich über die Bevormundung. Ich habe tagsüber keinerlei Beschäftigung, und die abendlichen Zusammenkünfte dauern nicht lange, drei oder vier Freiwillige versuchen ihr Glück beim Roulette, und das war’s dann. Nach dem ersten Abend, an dem Gendsi gewann, ist niemandem mehr der Totenkopf zugefallen, obwohl zum Beispiel Caliban keinen einzigen Tag versäumt. Ich habe schon meinen vorgestrigen Versuch beschrieben, auf den ich mich lange vorbereitet hatte. Die Kugel, die ich warf, landete bei der Sechs, das empfinde ich geradezu als eine Beleidigung! Wenn man das in Spielkarten umdenkt, bin ich für den Tod |188| eine Lusche. Am ungeheuerlichsten ist (davon habe ich nicht geschrieben), daß ich keine Enttäuschung empfand, sondern starke, schmähliche Erleichterung. Ich bin wohl noch nicht bereit.
    Nach dem Weggang der Löwin der Ekstase war ich kurze Zeit die einzige Frau im Klub. Die beiden neuen Anwärterinnen habe ich schon kurz beschrieben, aber es hat sich gezeigt, daß ich mit ihnen zu nachsichtig war. Sie sind Nullen! Wobei Iphigenie noch annehmbar ist, denn sie kennt ihre Grenzen, aber die andere, Gorgo, benimmt sich wie eine Königin und will immer im Mittelpunkt stehen. Oft gelingt es ihr, aber in weniger schmeichelhaftem Sinne, als sie möchte.
    Der ziegenbeinige Kriton hat sich selbstverständlich sofort an beide herangemacht – ich hörte, wie er der einfältigen Iphigenie etwas von der Natürlichkeit der Nacktheit vorschwafelte. Aber den Blütenstaub von diesen zweifelhaften Knospen hat selbstverständlich Prospero gesammelt: Vor drei Tagen behielt er Gorgo und gestern das rotwangige Dummchen da. Sonderbarerweise empfand ich nicht die geringste Eifersucht. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß das Fleischliche und Sinnliche mich völlig kalt läßt. Einen Beweis dafür bekam ich vorgestern, als Prospero mich nach dem Spiel plötzlich bei der Hand nahm und mit sich führte.
    Ich folgte ihm. Wieso auch nicht? Aber der Zauber wiederholte sich nicht. Überhaupt lief alles dumm ab. Ich mußte mich wieder auf das Bärenfell legen, er verband mir die Augen und

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