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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Aristokrat unter den Toden. Caliban wollte Colombina daran hindern, aus eigenem Willen zu sterben, um sie so als Betrügerin zu entlarven, wie er es zuvor mit Gdlewski getan hatte.
    So wäre es auch gekommen, wenn ich gestern Mademoiselle Colombina, beunruhigt von ihrer Verfassung, nicht nach Hause begleitet hätte. Wir verabschiedeten uns an der Haustür, doch ich blieb vor ihrem Haus stehen und beobachtete die Fenster, um sofort einzugreifen, wenn ich etwas Verdächtiges bemerkte. Dabei dachte ich natürlich nicht an Mord, ich fürchtete lediglich, das Fräulein könnte Hand an sich legen.
    Das Fenster ihres Zimmers war erhellt, hin und wieder sah ich hinter den Stores die Bewegung eines Schattens. Es war schon sehr spät, aber Mademoiselle Colombina legte sich nicht schlafen. Ich kämpfte mit mir. Sollte ich hinaufsteigen? Aber als Mann mitten in der Nacht ein alleinstehendes Mädchen besuchen? Nein, das war undenkbar.
    Ich sah nicht, wie Caliban das Haus betrat; offenbar war er vom Hof gekommen, über den Hintereingang. Viertel drei glaubte ich von oben gedämpfte Schreie zu hören, aber ich war mir nicht sicher. Ich schaltete alle Wahrnehmungen aus bis auf das Gehör, und bald vernahm ich ganz deutlich: ›Nein! Nein! Totenschädel! Würmer!‹
    Die Schreie kamen aus dem Treppenhaus. Ich begriff nicht den Sinn der Worte und begreife auch jetzt nicht, was Mademoiselle Colombina damit meinte, stürzte aber sofort zur Tür. Gerade noch rechtzeitig. Ein paar Momente Zögern, und es wäre zu spät gewesen.«
    Hier bekam Colombina einen hysterischen Anfall. Sie |256| schluchzte, warf sich dem Stotterer an die Brust, stammelte zusammenhanglose Wörter und küßte ihn mehrmals auf Stirn und Wangen, wovon die Frisur und der Kragen des Stutzers etwas Schaden nahmen. Schließlich gab man ihr Wasser zu trinken, nötigte sie in einen Sessel, und der Stotterer beendete seine Rede:
    »Das war’s, meine Damen und Herren. Ich erkläre den Klub ›Liebhaber des Todes‹ für aufgelöst. Es gibt keinen TOD mit Großbuchstaben. Erstens. Der Tod, den es gibt, braucht die Liebhaber und Liebhaberinnen nicht. Zweitens. Es kommt die Zeit, da werden Sie diesem langweiligen Herrn begegnen, ein jeglicher zu seiner Stunde. Dieser Begegnung kann niemand entgehen. Drittens. Leben Sie wohl.«
    Wir gingen schweigend auseinander, in den Gesichtern überwog Verwirrung oder Empörung. Von Prospero verabschiedete sich niemand, nicht einmal seine Odalisken. Er saß völlig vernichtet da. Kein Wunder. Wie konnte sich dieser gerühmte Hellseher und selbsternannte Seelenretter so fatal irren? Schließlich hatte er den gefährlichen Irren selbst in den Klub gebracht und unter seine Fittiche genommen, hatte im Grunde den Mörder ermutigt! Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.
    Oder doch? Gewiß, die Situation eines gestürzten Idols, gestern noch in den Himmel gehoben und heute in den Staub getreten, kann genauso intensiven Genuß bereiten wie Sieghaftigkeit und Erfolg. Wir Deutschen kennen uns damit aus, weil uns das Gefühl fürs Maß abgeht. Die raffinierte Süße der Schande, die nur sehr stolze Menschen kennen, empfand auch der geniale Dostojewski, der deutscheste der russischen Schriftsteller. Schade, daß Sie und ich keine Gelegenheit hatten, miteinander über Literatur zu sprechen. Jetzt wird es nicht mehr dazu kommen.
    |257| Damit beende ich meinen letzten Bericht, denn die von mir übernommenen Verpflichtungen sind erfüllt. Sie können Ihrem Chef melden, daß die Moskauer Epidemie der Selbstmorde erloschen ist. Rechnen Sie es sich als Ihr Verdienst an, ich habe nichts dagegen. Ich bin nicht ehrgeizig, brauche vom Leben keine Ehrung und keine Karriere, sondern etwas ganz anderes, das Sie, fürchte ich, weder schätzen noch verstehen können.
    Leben Sie wohl, Wissarion Wissarionowitsch, behalten Sie mich in guter Erinnerung. Ich werde mich bemühen, Sie in guter Erinnerung zu behalten.
    Ihr ZZ
    20. September

|259| SECHSTES KAPITEL
    1.
Aus Zeitungen
    MIT DEM MOTORRAD NACH PARIS
    Morgen wird auf einem dreirädrigen Motorrad ein russischer Sportler von Moskau nach Paris aufbrechen, mit dem Ziel, einen neuen Strecken- und Geschwindigkeitsrekord für selbstfahrende Fahrzeuge aufzustellen.
    Die 2800 Werst, welche die Hauptstädte der beiden befreundeten Nationen voneinander trennen, gedenkt der verwegene Rekordhalter Herr Nameless in zwölf Tagen zurückzulegen, nicht gerechnet Rasttage, Übernachtungen und sonstige Aufenthalte, die durch

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