Magisches Erbe
Kristins Miene wirkte ehrlich bedauernd. »Du weißt, dass ich fast alles für dich tun würde – aber nicht das. Du musst jemanden finden, der keine Angst vor ihr hat.«
Auf dem Weg zum Geschichtskurs grübelte ich unablässig über ihre Worte nach. Sie hatte recht. Aber die einzigen Leute, die sich mit Angeline vollkommen wohlfühlten, waren Eddie und Jill, und sie kamen als Nachhilfelehrer nicht infrage. Als ich später zu Mathe ging, überlegte ich, ob ich vielleicht jemandem Geld anbieten sollte.
»Ms Melbourne.«
Ms Terwilliger war zurück in ihrem Klassenzimmer, zweifellos zur Erleichterung der Vertretung von gestern. Sie winkte mich an ihren unordentlichen Schreibtisch und reichte mir ein Blatt Papier. »Hier ist die Liste, über die wir gesprochen haben.«
Ich überflog sie. Sie enthielt die Namen und die Adressen von sechs Mädchen. Das mussten die sein, die sie erwähnt hatte, Mädchen mit bekannter magischer Fähigkeit, aber ohne Zirkel oder Lehrerin, die auf sie aufpassen konnte. Alle Adressen befanden sich im Großraum von Los Angeles.
»Ich hoffe, dass Mrs Santos Ihnen die anderen Informationen verschafft hat, die Sie für Ihr Projekt benötigen?«
»Ja.« Mrs Santos hatte mir die historischen Wohnviertel gemailt, die sie kannte, und ich hatte sie auf zwei wahrscheinliche Kandidaten eingegrenzt. »Ich werde, ähm, an diesem Wochenende mit der Arbeit an dem Projekt beginnen.«
Ms Terwilliger zog eine Augenbraue hoch. »Warum schieben Sie es auf? Ich habe noch nie erlebt, dass Sie einen Auftrag auf die lange Bank schieben.«
Ich war ein wenig erschrocken. »Also … normalerweise tue ich das auch nicht, Ma’am. Aber diesmal wird es einige zusätzliche Zeit in Anspruch nehmen – Reisezeit –, und die habe ich an Schultagen nicht.«
»Ah«, erwiderte sie, da sie verstand. »Nun, dann können Sie Ihren Spezialkurs dafür nehmen. Das wird Ihnen zusätzliche Zeit verschaffen. Und ich werde Mrs Weathers mitteilen, dass Sie nach der Sperrstunde ins Haus kommen. Ich werde dafür sorgen, dass sie entgegenkommend ist. Dieses Projekt ist von äußerster Wichtigkeit.«
Es gab keinen Protest, den ich vorbringen konnte. »Dann fange ich heute an.«
Als ich zu meinem Schreibtisch zurückging, sagte jemand: »Mensch, Melbourne. Gerade dachte ich noch, dieser Spezialkurs, den du bei ihr machst, könne nicht mehr leichter werden … und jetzt brauchst du nicht mal mehr zum Unterricht zu erscheinen?«
Ich blieb stehen, um Trey zuzulächeln. Er war in dieser Stunde Ms Terwilligers Assistent, was bedeutete, dass er viel abzuheften und zu fotokopieren hatte.
»Es ist ein sehr wichtiger Auftrag«, erwiderte ich.
»Das dachte ich. Was ist es denn?«
»Würde dich nur langweilen.« Als ich ihn mir genauer ansah, musste ich zweimal hinschauen. Ich brauchte nicht erst krampfhaft nach einem neuen Thema zu suchen. »Was ist denn mit dir passiert?«
Seine Augen waren blutunterlaufen, und sein zerzaustes schwarzes Haar legte die Vermutung nahe, dass er am Morgen nicht geduscht hatte. Normalerweise erschien er braun gebrannt, doch jetzt war seine Haut von einem fahlen, beinahe kränklichen Ton. Er schenkte mir ein schwaches Lächeln und senkte die Stimme. »Craig Los Bruder hat uns gestern Abend Bier besorgt. Es stammte von einer Mikrobrauerei. Ich vermute, das ist gut.«
Ich stöhnte. »Trey, von dir hätte ich mehr erwartet.«
Er setzte einen so entrüsteten Blick auf, wie ihm das in seinem verkaterten Zustand nur möglich war. »He, einige von uns haben ganz gern ab und zu ein bisschen Spaß. Du solltest es irgendwann auch mal probieren. Ich hab schon bei Brayden versucht, dir zu helfen, aber das hast du ja verbockt.«
»Ich habe gar nichts verbockt!« Brayden war ein Barista, der mit Trey zusammenarbeitete und dessen Liebe zur akademischen Welt und zum Allgemeinwissen meinen Fähigkeiten ziemlich gewachsen war. Unsere kurze Beziehung war reich an Fakten und arm an Leidenschaft gewesen. »Er hat mit mir Schluss gemacht.«
»Sollte man nicht meinen. Weißt du, dass er in den Pausen liebeskranke Gedichte über dich schreibt?«
Ich war verblüfft. »Er … ehrlich?« Der Grund, warum Brayden mit mir Schluss gemacht hatte, war der, dass meine verschiedenen Pflichten meiner Vampirfamilie gegenüber ständig unsere Beziehung gestört hatten und mich zwangen, ihn zu vernachlässigen und oft abzusagen. »Ich fühle mich irgendwie mies, dass es ihn so hart getroffen hat. Es überrascht mich, dass er einen solchen,
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