Magma
Sie.«
Ella war so viel Überschwang peinlich. »Der Eindruck täuscht«, erwiderte sie mit einem Lächeln. »Die unangenehmen Dinge habe ich weggelassen, darüber will niemand etwas lesen.«
»Dabei sind es gerade die unangenehmen Dinge, die uns am meisten prägen. Finden Sie nicht?«, sagte die Frau. »Und bitte nennen Sie mich Helène. Wenn mich jemand
Madame Kowarski
nennt, komme ich mir immer so alt vor. Treten Sie doch näher. Ich freue mich sehr, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind.« Die Frau versprühte einen herben Charme, dem man sich nur schwer entziehen konnte. »Ein interessantes Haus haben Sie hier, Helène.«
»Gefällt es Ihnen?«
Ella überlegte kurz, ob sie sich zu einer Notlüge durchringen sollte, entschied sich dann aber dagegen. »Nicht wirklich, nein. Ich bin eher fürs Barocke. Ich mag weiche Kurven und verborgene Winkel. Mir würde dieser Kasten Angst machen.«
Madame Kowarski lächelte. »Sie sind zwar nicht die Erste, die so denkt, aber die Erste, die das offen zugibt. Mein Vater ließ dieses Haus einst erbauen. Ich lebe jetzt lange genug hier, um mich daran gewöhnt zu haben. Wenn Sie das Barock lieben, dann hatten Sie sicher eine angenehme Anfahrt.«
»Sie meinen wegen der vielen wundervollen Schlösser in der Gegend? Oh ja. Es kam mir fast vor wie im Märchen. Wieso haben Sie Ihr Haus eigentlich auf Stelzen gebaut?«
»Das hat mit der Überschwemmung vom Oktober 2000 zu tun«, sagte ihre Gastgeberin, während sie Ella und dem Professor die Tür öffnete. »Wir haben hier unten am See alle ziemlich nasse Füße bekommen. Danach habe ich das Haus abreißen und auf Stelzen errichten lassen. Aber jetzt treten Sie erst mal ein und gehen Sie ins Wohnzimmer. Konrad kennt den Weg. Ich mache uns einen Latte macchiato. Sie trinken doch einen, oder?«
»Sehr gern«, sagte Ella, fügte noch ein schnelles Danke hinzu und folgte dann dem Professor. Sie durchquerte einen Flur und betrat den ungewöhnlichsten Wohnraum, den sie je gesehen hatte. Seine schiere Größe war erdrückend. Er erstreckte sich über etwa hundert Quadratmeter, war zwei Stockwerke hoch und an der Frontseite über die volle Breite verglast. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick über den See und die gegenüberliegenden Berge. Es war fast so, als befände man sich auf einem Schiff. Um die Sonneneinstrahlung zu vermindern, war zwischen der Doppelverglasung eine Art halbtransparente Folie eingezogen worden, die herabgelassen war und den Raum in ein warmes Licht tauchte. Beherrscht wurde der Raum von einem großen Glastisch und einer Sitzgruppe aus blauem Alcantara-Leder. Auf einem der Sessel bemerkte Ella eine rot getigerte Katze, die die Neuankömmlinge argwöhnisch mit ihren grünen Augen musterte. Die Wände waren mit Regalen vollgestellt, die Hunderte von Büchern enthielten, manche davon augenscheinlich sehr alt. In den Zwischenräumen, von Halogenspots beleuchtet, hingen moderne Gemälde. Obwohl sie keine Kunstexpertin war, erkannte sie auf den ersten Blick einen Gauguin, einen Cézanne und einen Pollock. Die anderen Bilder konnte sie nicht zuordnen, war sich aber sicher, dass es sich ebenfalls um Meisterwerke handelte. Wenn dies keine Reproduktionen waren, und davon ging sie aus, so hingen dort Millionenwerte.
Während sie mit offenem Mund dastand und sich umsah, hatte Konrad Martin es sich bereits auf der Sitzgruppe im Zentrum des Raumes bequem gemacht. Ella ging auf die Bilder zu. Sie konnte nicht anders. Sie wurde wie magisch von ihnen angezogen. Sie stand gerade vor einem relativ kleinen Gemälde, das nur aus Strichen und Punkten bestand, als sie hinter sich die Stimme ihrer Gastgeberin vernahm: »Mögen Sie Pollock?«
»Ich muss gestehen, dass ich bis vor kurzem mit seiner Malerei nichts anzufangen wusste«, gab Ella unumwunden zu. »Für mich waren das einfach nur Farbkleckse.«
»Und was hat Ihre Meinung geändert?« Madame Kowarski stellte das Tablett mit Kaffee und Gebäck auf dem Tisch ab und gesellte sich zu ihr. Erstaunlich, dass sie sich trotz des ganzen Luxus keine Hausangestellten leistete.
»Ich habe ein Buch über ihn gelesen und einen Film gesehen«, erwiderte Ella, »und danach glaube ich ihn verstanden zu haben. Soweit man einen Besessenen und Verrückten verstehen kann«, fügte sie augenzwinkernd hinzu. »Aber da ich mich selbst für ein bisschen verrückt halte, fühle ich mich ihm irgendwie nahe.«
»Ich kann ihn nicht ausstehen«, entgegnete Madame Kowarski. »Nichts als purer
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