Magma
noch überschritt er die angegebene Höchstgeschwindigkeit. Nicht mal an den Stellen, die gut einzusehen waren und auf denen sich weit und breit kein anderes Fahrzeug befand, ließ er sich zu einem erhöhten Druck aufs Gaspedal hinreißen. Seine Hände befanden sich in exakter Position an der oberen Lenkradhälfte, die Daumen nach innen. Sein Blick war stets geradeaus gerichtet, außer in den kurzen Momenten, in denen er mit Hilfe des Spiegels den rückwärtigen Verkehr beobachtete. Mit geradezu pedantischer Ruhe und Gewissenhaftigkeit wurde die Vorfahrt beachtet, der Blinker gesetzt und jedes Ortsschild mit dem vorgeschriebenen Tempo passiert. Wäre Ella eine Fahrlehrerin gewesen, sie hätte ihre helle Freude gehabt. Doch in Wirklichkeit war ihr sterbenslangweilig. Seine Fahrweise fügte sich nahtlos in das Bild, das sie ohnehin von der Schweiz hatte. Vorbildlich, makellos und sauber. Sie lehnte sich aus dem Fenster, gähnte und ließ sich in einen Halbschlummer sinken.
Erst als das Ortsschild von Locarno in Sicht kam, wurde sie wieder wach. Jetzt hätte sie gut einen Kaffee vertragen können, aber da der Professor kein Zeichen von Müdigkeit erkennen ließ, schwanden ihre Hoffnungen, dass er einfach mal irgendwo anhalten und sie einladen würde. Na ja, sie waren ja sowieso bald da. Konrad Martin schnürte durch den Ortskern und lenkte das Auto zur Uferstraße hinunter. Auf der Seepromenade drängelten sich junge Leute, die mit den Händen voller Einkaufstaschen den schönen Samstagvormittag zum Bummeln nutzten. Auf dem See blitzten erste weiße Segel in der Morgensonne. Sehnsüchtig blickte sie über das azurblaue Wasser. Es versprach ein herrlicher Frühlingstag zu werden.
Martin bog in die
Via Giovacchino Respini
ein und beschleunigte auf die vorgeschriebenen 50 km/h. Als sie die Bucht von Locarno umrundeten, sah sie ein bizarres Gebäude, das sich, auf Stelzen gebaut, am Ufer erhob. Irgendwie sah das Ding merkwürdig aus, dachte Ella. Doch ehe sie es genauer betrachten konnte, wurde ihr Blick von den Bäumen eines gepflegten Parks überdeckt. Die Anlage war von einem hohen Zaun umgeben, der nur an einer einzigen Stelle unterbrochen war. Martin lenkte das Fahrzeug zu einem großen schmiedeeisernen Tor und hielt an. Eine Videokamera richtete ihr kaltes Objektiv auf sie. Der Professor hob die Hand, und im selben Augenblick öffneten sich die Torflügel. Ella begriff erst jetzt, dass dies kein öffentlicher Park war. Er war Privatbesitz und schien, genau wie das seltsame Haus, ihrer Gastgeberin zu gehören. Sie überschlug im Kopf, was ein Grundstück von dieser Größe und in dieser Lage wohl wert sein mochte, und pfiff leise durch die Zähne. Man musste bedenken, dass in einem Land wie der Schweiz der Begriff
Reichtum
eine andere Bedeutung hatte. Er war nicht vergleichbar mit dem Rest der Welt. Sie war in ihrem Leben schon einigen wohlhabenden Menschen begegnet, aber das hier sprengte alle Maßstäbe.
Während der Volvo über die asphaltierte Zugangsstraße fuhr, kam das Gebäude wieder in Sicht. Und jetzt war auch klar, warum Ella eingangs so befremdet war. Es handelte sich um einen weißen Würfel. Alle Seiten waren gleich lang, die Flächen kantig und schmucklos und nur an einigen Stellen von schmalen Fenstern durchbrochen. Ein breites Kiesfeld umgab die Architektur wie ein Burggraben und verhinderte, dass die Bäume des Parks sich zu dicht an das Gebäude heranwagten. Alles in allem war es nüchtern … und kalt.
Als Martin das Auto parkte, öffnete sich die Tür. Heraus trat eine Frau mittleren Alters mit streng nach hinten gebundenen Haaren. Ella dachte zunächst an eine Hausangestellte, doch sie besann sich rasch eines Besseren. Die energischen Gesichtszüge der kleinen Person, der kühle Blick, die unauffällige, aber teure Kleidung, all das ließ nur den Schluss zu, dass sie es mit der Gastgeberin persönlich zu tun hatte. Die Frau hob die Hand. »Konrad. Wie war die Fahrt? Alles gut verlaufen?«
Der Professor winkte knapp zurück, gab aber keinen Laut von sich. Seine Wortkargheit schien auch vor guten Bekannten nicht Halt zu machen. Ella war kaum ausgestiegen, da wurde sie auch schon mit einem kräftigen Händedruck begrüßt.
»Dr.Ella Jordan?«, in den Augen der Frau funkelte Neugier. »Ich freue mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Nachdem ich erfahren habe, dass Sie an der Expedition teilnehmen werden, habe ich mir Ihr Buch besorgt. Was für ein aufregendes Leben. Ich beneide
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