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Magna Mater - Roman

Magna Mater - Roman

Titel: Magna Mater - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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zu. Ein blassgelber Streifen über dem Meer kündigte den Sonnenaufgang an. Wir Ordensfrauen saßen in dem noch dunklen Saal, an einem langen Tisch. Uns gegenüber vor der weiß gekalkten Stirnwand standen die beiden Gesetzesbrecher. Das Licht der Öllampen huschte flackernd über ihre Gesichter und Leiber. Sie waren nackt und wirkten so verloren wie zwei aus dem Nest gefallene Vögel.
    Auf Kinn und Wangen des Mannes wucherten schwarze Bartstoppeln, die sein Gesicht noch fahler aussehen ließen, als es von Natur aus schon war. Man hatte ihm das Rasiermesser weggenommen. Schütteres Kräuselhaar wuchs ihm von der Kehle bis hinab zur Scham. Ein ekelerregender Anblick.
    Die Brüste der Frau waren nicht knabenhaft flach, wie sie den Blühenden zu eigen sind, sondern fleischig. Sie wirkten aber schlaff, weil die Frau sie fest an den Leib gewickelt hatte, um sie nicht in Erscheinung treten zu lassen.
    Bei ihrem Anblick fragte ich mich, wie diese beiden Elendsgestalten es geschafft hatten, über so lange Zeit ihre Reife zu verbergen. Und vor allem, warum sie sich das angetan hatten.Was bringt einen Menschen dazu, sich derart zu entstellen?
    Ich kann mich nicht mehr wortgetreu an die Anhörung erinnern. Aber einzelne Passagen sind mir unvergesslich geblieben. Die Frage, warum sie aus der wohlbehüteten Welt der Blühenden ausgebrochen seien, beantwortete der Mann mit einer Gegenfrage: »Warum fliegen Käfigvögel davon, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet? Eingesperrte Vögel singen von der Liebe; wilde Vögel leben sie.«
    »Wie kannst du vom Käfig sprechen? Noch nie verfügten Menschen, junge Menschen, über so viel Freiheit wie ihr.«
    Der Mann erwiderte: »Man kann Zugtiere mit der Peitsche antreiben. Man kann sie mit einer Möhre voranlocken. Am wirkungsvollsten aber ist es, wenn man sie von Kindheit an so dressiert, dass sie die Last des Karrens für einen natürlichen Teil ihres Daseins halten. Die totale Gewalt über eine arme Kreatur wird erreicht, wenn man sie kastriert, wenn man Stiere zu Ochsen verstümmelt und Menschen zu Blumenkindern.«
    »Die Verstümmelung, wie du Dummkopf sie nennst, verleiht dir Gesundheit und Jugend bis an dein Lebensende. Ihr verdankst du, dass du ein Blühender bist.«
    »Wir sind keine Blühenden«, widersprach die Frau, und es war das erste Mal, dass sie etwas sagte. »Blüten sind Organe der Liebe. Dafür verströmen sie ihren Duft und werben in leuchtenden Farben. Die ganze Welt ist erfüllt von dieser Lust: der Gesang der Vögel, das wirre und wunderliche Konzert der Frösche, der Gaukelflug der Schmetterlinge, das Umherschwärmen der Käfer, die bunte Welt der Blumen und Blüten. Sie alle singen, tanzen, schweben, leuchten und locken aus Liebe. Sie sind wahrhaft Blühende. Wir sind Verstümmelte.«
    »Deine Worte klingen so geschwollen wie die Sprache in dem Buch, das wir bei euch gefunden haben«, meinte die Prinzipalin und wollte wissen, woher sie es hätten und wieso sie lesen könnten.
    Die beiden Angeklagten schwiegen beharrlich. Der Mann kratzte sich an seinem behaarten Hodensack.
    »Wir erwarten eine Antwort.«
    Und als sie weiterhin schwiegen, sagte Mater Metaxa: »Dann erklärt uns wenigstens, warum ihr nicht länger blühen wollt.Oder gibt es auch darauf keine Antwort? Warum werft ihr eure Jugend leichtfertig fort?«
    »Weil wir uns lieben.«
    »Lieben tun wir uns alle«, entgegnete die Prinzipalin, »aber nicht paarweise wie die Tiere. Ihr liebt euch, weil ihr euch begehrt.« Mit einem Blick auf die Frau sagte sie: »Du bist an Jahren nicht mehr die Jüngste und wirst schneller altern, als dir lieb ist. Bist du sicher, dass er dich dann noch will? Die Liebe der Vögel, Frösche und Schmetterlinge, die du hier als leuchtendes Beispiel angeführt hast, währt nur wenige Tage, und die Blumen verwelken noch rascher.«
    »Wenn ihr Blühen länger als ein paar Tage währte, wir würden sie so innig nicht lieben«, sagte die Frau. »Es gibt keine Schönheit ohne Vergänglichkeit. Gemeinsam alt werden, wie wundervoll muss das sein!«
    »Das ist unmoralisch«, belehrte sie die Prinzipalin. »Und glaube mir, es gibt keine Gesellschaft ohne Moral. Wo sie stark genug ist, bedarf es keiner Polizei und Gerichtsbarkeit. Wichtigste Voraussetzung aber ist Gehorsam.«
    »Erzwungener Gehorsam erwürgt alle Intelligenz«, höhnte der Mann. »Die besten Geister verblöden zu Schafen.« Er wurde im Laufe der Anhörung immer ungehaltener, sprach von der Verhausschweinung des Menschen,

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