Magna Mater - Roman
nennen ihn Harun. Er ist so etwas wie ihr Medizinmann. Er versorgt mich mit Tee.
Früh am Morgen bin ich aufgebrochen, um mir die Insel anzusehen. Obwohl sie so ausschaut, als wäre sie vulkanischen Ursprungs, sind ihre Felsen hell wie Kalkstein. Vom Hafen allmählich ansteigend, geht das flache Land in ein nacktes Bergmassiv über, das von tiefen Tälern durchzogen wird. In solch einer Schlucht, nur zwei Steinwürfe breit, befindet sich das Felsennest der Skarabäen.
Die Abenddämmerung senkt sich auf die Schlucht. Es ist still bis auf das Tosen des Meeres. Da liegt ein Geruch von feuchter Erde und fauligem Laub über dem Tal. Es hat geregnet, und der Himmel ist immer noch bewölkt. In der Luft hängt der Duft von Salbei und Eukalyptus.
Aber da ist ein Geruch, den ich nicht kenne, schmierig wie heißes Fett. Und da glimmt ein Feuer im Hof, an dem sich die Männer niedergelassen haben. Sie verzehren irgendetwas. Man kann hören, wie es ihnen schmeckt. Sie kauen mit offenen Mündern, halten Stöcke über die Glut, um ihr Essen zu garen. Maiskolben werden so geröstet. Ich mag Maiskolben, will mir einen greifen. Karras schiebt meine Hand beiseite: »Besser, du lässt das. Weißt du, was das ist?«
»Nein.«
»Gebratene Tauben.«
»Tauben! Ihr esst Tauben?«
Ich erhebe mich angeekelt und suche das Weite, verfolgt vom Gestank gebratenen Fleisches. Wie hatte der Skarabäus im Hafen gesagt: »Hier ist alles anders als anderswo.«
Später erfahre ich, dass sie sich von Tauben, Fisch und Muscheln ernähren, und von Datteln. Es muss ihnen gut bekommen, denn sie haben im Gegensatz zu den Ordensfrauen gesunde weiße Zähne.
Männer brauchen wohl Fleisch.
Karras läuft mit mir durch den Palmenhain. Er bückt sich, hebt eine Dattel auf und gibt sie mir.
»Danke.«
»Ich habe mich nicht bei dir bedankt«, sagt er.
»Wofür?«
»Du hast mit deiner Körperwärme mein Leben vor dem Erlöschen bewahrt. Dafür schulde ich dir mehr als Dank.«
»Warum bist du damals gegangen, ohne Lebewohl zu sagen?«
Wir laufen schweigend nebeneinander her. Dann sagt er: »Skarabäen sind wie die Kuckucksvögel. Alle haben schon den Kuckuck gehört. Aber nur wenige wissen, wie er aussieht. Jeder kennt uns. Aber wer uns schaut, ist des Todes.«
»Immer?«
»Immer. Nun weißt du, warum ich mich bei Nacht davongestohlen habe. Wir sind uns nie begegnet.«
»Aber es ist geschehen«, höre ich mich sagen, »und nun schon zum zweiten Mal.« Es klingt trotzig. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, ihm die Wahrheit zu sagen: Das Resultat meiner Begegnung mit dem Tod war ein neues Leben. Und du, der Todesengel, bist sein Vater.
Stattdessen schweige ich. Er blickt mich an und sagt: »Du bist die Ausnahme, die es nicht geben darf.« Es klingt besorgt.
»Und wegen einer anderen Ausnahme, die es nicht geben darf, bin ich hier«, erinnere ich ihn an den Grund meiner Anwesenheit. Und da die anderen nicht mit mir reden, frage ich ihn: »Wann und wie wollen wir mit der Untersuchung beginnen?«
»Mit welcher Untersuchung?«
Bei der Frage wird mir bewusst, dass mich hier niemand ernst zu nehmen scheint. Er bemerkt meine Verwirrung und meint: »Werde erst einmal gesund.«
Ich widerspreche: »Ich bin gesund.«
Aber das stimmt nicht. Meine Kopfschmerzen haben zugenommen. Schwindelanfälle schrecken mich. Nachts finde ich keinen Schlaf. Ich fühle mich elend. Harun versorgt mich mit heißem Tee.
Der Himmel ist blau, leuchtend blau, wie rein gewaschen nach längerem Regen. In den Pfützen spiegelt sich die Sonne. Wir sind zum Meer gelaufen, mehrere Skarabäen und ich.
»Komm«, hat Karras gesagt, »die Sonne wird dir guttun.«
Wir liegen am Strand in einer dicht bewaldeten Bucht. Vielleicht ist es die, in der sich Attea versteckt gehalten hat. Da fließt auch ein kleiner Bach, wie von ihr beschrieben. Die Männer – welch ein Fremdwort! – sind nackt. Salzwasser perlt von ihren breiten Schultern. Muskeln bewegen sich unter behaarter Haut. Wie schutzbedürftig sich ihre Schwänze in dem krausen Haar der Schöße verstecken. Tiere bewegen sich so. Sie sind schön, aber anders schön als die männlichen Blühenden, die ich kenne.
Am schönsten aber ist Jakaranda. Er befindet sich jetzt in dem Alter, in dem ein junges Pferd kein Fohlen mehr ist, aber dennoch nicht vor den Karren gespannt wird. Ein Reifer, den der Glanz der Blühenden umgibt. Der Jüngste unter den Skarabäen. Welch bizarres Schicksal mag ihn auf die Toteninsel verschlagen haben? Ist er
Weitere Kostenlose Bücher