Magna Mater - Roman
Nähe zu betrachten. Ein alter Mann mit grauen Bartstoppeln und weißem Haupthaar. Er trägt es länger als die anderen. Falten durchfurchen sein Gesicht. Der Lidschlag über erblindeten Augen verbreitet Ruhe und Überlegenheit, vor allem Überlegenheit. Den Blick nach innen gerichtet, fragt er: »Du bist zu uns gekommen wegen der Frau, die den Weg aller Blühenden nicht zu Ende gehen wollte?«
»Die Magna Mater will wissen, was hier verkehrt gelaufen ist. Sie hat mich mit dieser Mission betraut.«
»Verkehrt gelaufen ist?« Er wiederholt meine Worte, als ob ihm meine Formulierung nicht zu gefallen scheint. Er neigt mir sein rechtes Ohr entgegen, damit ihm keine Feinheit meiner Stimme entgeht, als will er mich bis auf den Grund meiner Seele aushorchen: »Was hat dir diese Abtrünnige von uns berichtet?«
»Ich habe es der Magna Mater mitgeteilt.«
»Ich kenne diesen schriftlichen Bericht. Er ist recht kurz, wenn man bedenkt, dass die Frau mehrere Tage in deinem Haus weilte. Und warum kam sie ausgerechnet zu dir?«
»Zufall.«
»Ich glaube nicht an Zufälle. Du bist ihr vorher nie begegnet?«
»Nein.«
»Und du bist dir sicher, dass sie, bevor sie zu dir kam, bei keinem anderen war?«
»Wie kann ich das wissen, und warum fragst du mich danach?«
»Der Weg von uns zu dir ist weit. So viele Wochen ohne Nahrung auf dem Meer, das überlebt kein Mensch, es sei denn, er hätte zwischendurch Station gemacht.«
»Womit verdiene ich so viel Aufmerksamkeit?«
Er neigt sich noch weiter vor und sagt: »Erst rettest du einen Skarabäus aus dem Meer und holst ihn in dein Haus. Dann rettet sich eine vor den Skarabäen Geflüchtete in dein Haus. Ein wenig zu viel Zufall, finde ich. Irgendetwas an dir ist ungewöhnlich. Du bist anders als die anderen. Ich irre mich da nicht. Ich bin ein alter Mann.«
Ich frage: »Warum habt ihr die Ärmste laufen lassen? Konntet ihr sie nicht zurückholen?«
»Was hätten wir mit ihr anstellen sollen? Ihr Leib verweigerte das Hormon. Lust lässt sich nicht erzwingen. Und ein lustloser Tod ist eine traurige Angelegenheit. Ihr Paradies war die Freiheit. Sie bekam, was sie wollte.«
»Ihr habt sie laufen lassen, weil ihr gehofft habt, das Meer würde sie zu sich nehmen.«
Abt Estragon nickt mit dem Kopf und sagt: »Das Meer ist ein gerechter Richter.«
Als er sich erhebt, um das Gespräch zu beenden, frage ich ihn: »Warum trieb Karras auf dem Meer? Die Stelle, an der ich ihn fand, liegt weit weg von eurer Insel.«
»Das fragst du ihn besser selber«, erwidert der Alte. »Im Übrigen muss ich dich wohl nicht darauf aufmerksam machen, dass auf allem, was du hier hörst und siehst, die Lethe des Vergessens ruht. Von Arkadia kehrt keiner zurück, um zu berichten.« Es klingt wie eine Warnung. Aber warum bin ich dann hier?
»Ich glaube, er fühlt sich der Magna Mater ebenbürtig«, sage ich zu Karras, als ich ihm von dem Gespräch berichte. Der nickt und meint: »Er ist die Magna Mater.«
Der Alte hat mich sehr beeindruckt. Als er ein paar Tage später bemerkt, dass ich mir Notizen mache, er bemerkt vieles, ohne es zu sehen, sagt er: »Einer, der sich bemüht, das Leben in Buchstaben festzuhalten, vermindert die Empfindung. Eine Wahrnehmung ohne Worte, wie sie Tieren und kleinen Kindern gegeben ist, wird nicht nur im Kopf, sondern mit allen Sinnen erlebt.«
Bei anderer Gelegenheit pflückt er nach der mittäglichen Meditation eine Tamariskenblüte und sagt: »Schau sie dir an, wie schön sie ist. Sie ist Form, Farbe, Duft, Leben. Zerrupfe sie mit Worten, und sie ist keine Blüte mehr, sondern nur noch eine vage Erinnerung daran, was sie einmal war.«
Dann spricht er wieder tagelang nicht mit mir.
Wie die Termiten verbringen die Männer die meiste Zeit des Tages unter der Erde, oder richtiger: in den ausgehöhlten Felswänden. Und ich will natürlich wissen, was sie dort treiben, vor allem interessiert mich die Brutzentrale, die meine Fantasie beschäftigt, seitdem mir Mater Metula auf Urutawa davon erzählt hat:
Lange Reihen von aquarienähnlichen Behältern, gefüllt mit glasklarer Flüssigkeit. Darin schwimmen kopfüber die heranreifenden Föten, umwabert von Nabelschnüren und Versorgungsschläuchen. Hin und wieder bewegt sich ein Beinchen. Froschartige Hände greifen ins Leere. Ein kahler Kopf auf halslosem Leib pendelt gegen die Glaswand. Und das alles bei fleischlich rötlichem Kunstlicht. Mater Metula hat mir die Brutzentrale so lebendig beschrieben, dass ich glaubte, sie mit
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