Magna Mater - Roman
sie vor mir, elend und erbarmungswürdig.
Attea hatte sich von Datteln ernährt und von dem Wasser des Baches, der unter mir über die Felsen plätscherte, aber woher hatte sie das Boot, mit dem sie geflohen war? Ich hatte nirgendwo eines gesehen. Wozu auch? Die Skarabäen lebten so getrennt von allen anderen, dass sie dergleichen gewiss nicht benötigten. Sie waren mit ihrem Eiland so fest verwurzelt wie die Mangrovenbäume, die hier an der Küste ihre Wurzeln in den Boden krallten.
Die Nacht war sternklar, und ich fror. Erst gegen Morgen schlief ich ein. Doch dann schreckten mich schaurige Träume.
Männer tragen mich auf ihren Schultern bei Fackelschein durch die Nacht, die Gesichter hinter Masken verborgen. Schwerfälliges Schreiten im Takt einer Trommel. Oder ist das mein Herz, das so heftig schlägt? Da ist das Treppenhaus mit den blau leuchtenden Stufen. Und oben am Ende des Ganges der Fledermausturm. Gondeln gleiten heran, dunkel und drohend wie Gewitterwolken, nein, wie gefräßige Fische. Sie schnappen nach mir, um mich zu verschlingen, so wie sie die Frauen verschlungen haben, die in ihren Bäuchen stecken. Ich erwache von meinem eigenen Schrei, schlafe erneut ein, treibe in einem Kahn auf dem Meer. Nicht weit von mir ein Baumstamm. Ein Mensch klammert sich daran. Es ist Karras. Ich hole ihn ins Boot und weiß, wie es weitergehen wird. Das Geschehen wird sich wiederholen, ohne dass ich es zu ändern vermag.
Die beiden nächsten Tage verbrachte ich in der Sonne. Die Wärme tat mir gut. Ich bewegte mich nur wenig, um Kraft zu sparen. Meinen Hunger stillte ich mit Muscheln und Seetang. Das Leben war erträglich, wenn nur die Nächte nicht so kalt gewesen wären. Aber auch das bekam ich in den Griff. Ich hatte mir ein Lager aus trockenen Gräsern, Laub und Farnkraut errichtet. Darin verbrachte ich auch tagsüber die meiste Zeit, wenn die Sonne nicht schien. In dichtem Dornengestrüpp hatte ich einen Unterschlupf gefunden, wo ich mich verkriechen wollte, wenn sie kamen, um nach mir zu suchen.
Sie würden kommen. Dessen war ich mir ganz sicher. Und was dann? Was würden sie mit mir anstellen? Brutal erschlagen würden sie mich gewiss nicht, auch wenn sie Männer sind. Sie würden mein Zu-Tode-Kommen dem Meer überlassen. Das hatte im Orden Tradition. Wir töteten keinen. Wie aber schieden die Frauen aus dem Leben, die hier besamt wurden? Erlosch ihr Leben nach dem hormonellen Eingriff und der Befruchtung auf natürliche Art wie das Leben der Lachse oder wurden sie eingeschläfert?
Was musste das für ein Schreck gewesen sein, als sie feststellen mussten, dass ich ihnen entlaufen war. Ausgerechnet die Frau, die herausfinden sollte, wie eine Todgeweihte die Insel lebend verlassen konnte, tat ihnen nun die gleiche Schmach an.
Auch ich war von Anfang an dem Tod geweiht. Daran bestand für mich kein Zweifel mehr. Sie konnten mich nicht einfach laufen lassen. Keiner, der die Schwelle zum Totenreich überschritt, kehrte zurück.
Sie hatten ihre Masken fallen lassen, hatten mir ihr wahres Gesicht gezeigt, hatten mir Einblick in ihre unheimliche Welt gewährt, weil sie wussten, dass ich ihre Insel nicht lebend verlassen würde.
Wenn mir die Flucht gelänge, würde ich dem Orden die Augen öffnen, würde die Magna Mater davon in Kenntnis setzen, was sich hier abspielt.
Hatte die Magna Mater am Ende geahnt, welch ketzerische Mächte hier am Werk waren? War ich von ihr im Alleingang entsandt worden, um mit meiner Opferung zu bestätigen, dass hier etwas falsch lief.
War das der wahre Grund meiner Mission?
Wie aber konnten es die Igelköpfe wagen, eine Gesandte der Magna Mater aus dem Weg zu räumen? Mussten sie nicht damit rechnen, dass man sie für meinen Tod verantwortlich machen würde? Der Orden würde das nicht hinnehmen.
32. KAPITEL
S ie wollten mich töten.
Karras, dem ich das Leben gerettet hatte, Jakaranda, mein Kind, würden sie zulassen, dass man mich umbrachte? Und Estragon?
Zu ihm hatte ich am meisten Vertrauen. Ich weiß nicht, wie das ist, Vater und Mutter zu haben. Aber wenn ich einen Vater hätte, wünschte ich mir, er würde wie Estragon sein. Er hatte mein Denken verändert, und er gab mir das stolze Gefühl, dass auch ich das seine beeinflusst hatte.
»Du sprichst nicht ernsthaft mit einem Menschen, ohne dass sich in dir, wie in dem anderen, etwas verändert«, hatte er zu Anfang unserer Begegnung gesagt. Da verstand ich ihn noch nicht. Meine Gedanken mussten ihm so fremdartig erschienen
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