Magnolienschlaf - Roman
hätte sie den Badezimmerhocker gebraucht. Dochder ist jetzt ein Ozean, auf dem kleine, eckige Boote schwimmen, aus dem Innenleben von Mamas leeren Streichholzschachteln
gebaut, in die Jelisaweta Papiersegel geklebt hat. Die Oberseiten der Schachteln bewahrt sie in einer Tüte, vielleicht wird
Mama ihr doch eines Tages helfen, die darauf klebenden Sammelbildchen mit Wasserdampf von der Pappe zu lösen. Laut polternd
klopfen Seeräuber an die Kajütentür.
»Tonja Fjodorowna?«
Jelisaweta horcht auf. Es sind echte Seeräuber, was Jelisaweta wundert, denn normalerweise sind Männerstimmen nicht auf diesem
Meer zu Hause. Auf Knien krabbelt sie zur Badezimmertür und späht in den Flur hinaus, zieht jedoch den Kopf sofort ein Stück
zurück. An der Wohnungstür stehen zwei Milizionäre und halten Babka am Arm. Sie zetert, reißt sich los, schlägt noch einmal
hinter sich, bevor sie sich an Mama vorbei in ihr Zimmer quetscht. Jelisaweta kann sie mit ihrer dunklen Jacke und den kurzgeschnittenen
grauen Haaren hinter der Tür verschwinden sehen.
»Was ist passiert?«, hört sie Mama tonlos fragen.
»Die spuckt!«, knurrt der eine. »Sie hat uns beschimpft, nach uns getreten und mehrmals vor uns ausgespuckt. Normalerweise
müssten wir sie mitnehmen, aber angesichts ihres … na ja, Zustandes wollen wir noch einmal ein Auge zudrücken.«
»Sie sollten in Zukunft besser auf Ihre Mutter aufpassen«, bekräftigt der andere. »Wir wissen ja, wie es um sie steht.«
Mama nickt nur, schließt die Tür vor den Beamten. »Gar nichts wisst ihr«, zischt sie und bleibt reglos stehen.
Leise richtet Jelisaweta sich auf, tappt in den Flur hinaus und betrachtet Babkas Zimmertür, als könnte die ihr etwas erzählen.
Mama sieht klein aus, obwohl Jelisaweta von unten zu ihr hinaufsieht.
»Was ist mit Babka, Mama?«
Mama dreht sich schweigend um, blickt durch Jelisaweta hindurch auf den Fußboden.
»Mama, warum ist Babka verrückt?«
Schon ist Mama wie immer und herrscht Jelisaweta an: »Unsinn, Babka ist nicht verrückt. Wer sagt denn so etwas?«
Jelisaweta presst die Lippen aufeinander. Alle sagen das, müsste sie antworten. Mama macht einen Schritt auf Jelisaweta zu,
streckt ihre Hand aus, als wolle sie über ihren Kopf streichen, doch die Hand sinkt wieder herab. »Babka hat viel Kummer gehabt.«
Dann wendet sie sich brüsk um, als hätte sie mehr Worte verschenkt, als Jelisaweta zustehen.
Wilhelmines Blick irrt durchs Zimmer, auf der Suche nach irgendetwas, in das sie ihre Gedanken ankern könnte. Was ist mit
den Gardinen? Wann hat sie die eigentlich gekauft, hat die alte Frau Wagner die noch genäht? Und die Kiste da oben auf dem
Schrank, was ist da überhaupt alles drin? Mühsam zieht sie im Geist Schuhschleifen und verblichene Seidentücher heraus, fischt
Stück für Stück nach längst Überflüssigem, doch das Wort schnappt immerzu nach ihr, wie eine Hand aus dem Nichts, und packt
zu. Eine kräftige, junge Russenhand. Dann verschwimmtalles, Bilder und Worte mischen sich zu einem tiefen Sumpf, der sich um sie schließt, und Wilhelmine ist außerstande, zu sagen,
was sein kann und was nicht. Für Augenblicke ist alles möglich. Wie damals, als sie unter der Magnolie lag, mit dem Kopf auf
klammer, satter Frühlingserde, neben sich ein paar braunwelke Narzissen, und auftauchte aus diesem dunklen, warmen Eiderdaunenschlaf,
der nach und nach Löcher bekam. Erst ganz kleine, die nicht gestört haben, dann mehr und größere, bis es licht wurde und kalt.
Es muss Stunden gedauert haben. Nie wieder hat sie so geschlafen, so herrlich tief und tot. Und nie wieder war das Erwachen
so endgültig. Erbarmungslos ist die Kälte ihre nackten Beine emporgekrochen. Sie trägt nur Wollsocken unter dem Mantel, spürt
die Pflastersteine unter sich, bucklig und feucht. Sieht die Magnolienäste über sich, dieses bizarre schwarze Gewirr, die
makellosen blassrosa Knospen, und staunt, bis der Boden unter ihr wieder zu zittern beginnt. Instinktiv krampft sich ihre
rechte Hand zusammen, umschließt etwas, das sich spitzkantig und unerwartet warm anfühlt. Ein kleiner Stein? Wie lange hält
sie ihn schon? Als sie den Arm anhebt und die steifkalten Finger behutsam öffnet, rutscht etwas heraus, kitzelt über ihre
Haut, silbrig glänzend fällt es auf ihre Brust …
Nein! Wilhelmine reißt an der Bettdecke.
Herrgott, irgendein Gedicht, sie muss doch etwas zusammenkriegen,
wer reitet so spät durch
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