Magnolienschlaf - Roman
Tränen aufhören, ihren Brustkorb zu schütteln.
In dieser Nacht kommen die Schreie wieder. »Hie-sa. Hie-sa.« Lauter sind sie dieses Mal, und Jelisaweta kann durch die angelehnten
Türen hören, wie unruhig die Alte schläft. Als etwas laut poltert, läuft sie hinüber.
Wilhelmine Hennemanns Arm knallt gegen das Kopfteil des Bettes. »Hie-sa. Nein. Tus nicht!« Ihre Lider zucken. Instinktiv umfasst
Jelisaweta das ruhelose Handgelenk, drückt es sanft, aber bestimmt nach unten. Es muss ein großes Ungeheuer sein, gegen das
die Alte im Schlaf zu kämpfen hat. Behutsam setzt Jelisaweta sich auf die Bettkante und beginnt, ein Schlaflied zu summen,
jenes, das die Au-pair-Mutter dem kleinen Friedrich allabendlich vorgesungen hat. Den Text weiß sie nicht mehr, doch russische
Schlaflieder kennt sie noch weniger.Sachte streichelt sie die faltige Hand, bis sie spürt, dass die sich langsam entspannt.
»Gisela.« Die Alte haucht es mehr, als dass sie es spricht, und für einen winzigen Moment reißt sie die Augen auf, auch ihr
Blick ist ein scharfer Schrei, dann geht ihr Atem wieder völlig ruhig.
Gisela.
Hiesa ist Gisela. Nicht Lisa.
Mit einer Mischung aus Enttäuschung und Neugierde legt sich Jelisaweta in ihr Bett, zieht die Beine an und wickelt die Decke
um ihre Füße. Es kommt ihr vor, als brauche sie Stunden, um in den Schlaf zu finden. Immer wieder sieht sie den verzerrten
Blick vor sich, hört die angstvollen Rufe. Wer immer diese Gisela sein mag, sie muss etwas Furchtbares angestellt haben.
Die Decke wird ihr weggezogen, Kälte packt sie, Hände greifen nach ihr, sie lässt es geschehen.
»Du musst helfen, habe ich gesagt.«
Wilhelmine lässt den Kopf zur Seite fallen. Sie spürt, wie die andere versucht, ihre Füße mit Schwung über die Bettkante zu
ziehen.
»Bleibst du eben liegen, alter Esel!« Sie hört das Mädchen schnauben, fühlt, wie ihre Beine ins Bett zurückgeschoben werden.
Kurz darauf wird sie unter den Knien gepackt und angehoben, diese Russin macht es anders als Karin, routinierter, ja, da ist
Wilhelmine sicher, die hier weiß genau, was sie tut. Sie zieht ihr das Nachthemd über die Windel und breitet die Bettdecke
aus.
Da liegt Wilhelmine, neben sich das Matratzenloch. Luft geht, die Fensterscheibe ist zerbrochen; wäre es Winter, wäre sie
sicher längst erfroren. Sie hält die Augen geschlossen, sieht dennoch das notdürftig kaschierte Mauerloch, die zerschrammte
Kommode, die hölzerne Rückwand des Spiegels, der in Scherben gegangen ist. Eingetreten haben sie ihn, das hat sie zumindest
später immer gesagt. Fast anmaßend erscheint ihr nun die Leichtigkeit, mit der sie sich früher darin betrachtet hat. Früher.
Vorher. Sie hat etwas Obszönes, diese Nonchalance, mit der sie einst die Treppe hinunter und zum Einkaufen gegangen ist, in
ihrem gelbblühenden Sommerkleid, als gäbe es kein Schwarz auf der Welt. Sie sieht Preuskers Milchladen an der Ecke. Herrn
Preusker mit seiner blauen Schürze, der statt Haaren seinen Bleistift hinter dem Ohr trägt. Und auf dem Heimweg ist sie stets
einen Umweg gegangen, zu dem Geschäft mit der roten Markise, die hatten das frischeste Gemüse. Sie sieht die Steinplatten
auf dem Gehsteig, von ungezählten Schritten und Regengüssen blank geschliffen. Und dann das Haus. Unten die Apotheke von Herrn
Zielen, mit dem weißen Emailleschild,
Notglocke
steht darauf. Er winkt ihr zu, kommt heraus aus seinem Laden, wie jedes Mal, grüßt höflich und galant. Lächelt. Greift nach
Wilhelmines Hand, seine Augen zwei schwarze Löcher, sein ganzer Kopf nur noch ein Totenschädel, er zerrt an ihrem Arm, Wilhelmine
schreit, reißt sich los, stürzt davon, rennt atemlos die Straße entlang, immer weiter, nur fort …
Unendlich langsam frisst der Regen an den Schneeflecken im Garten, bis nur mehr gelbbraunes Gras zu sehen ist. Der Himmel
hängt wie Schmutz über dem Haus, und die Feldwege, auf denen Jelisaweta zu joggen versucht hat, sind lehmige Matschpisten.
Es bleibt den ganzen Tag über so finster, dass sie Licht anschalten muss. Sie kauft exotische Teesorten und zündet Teelichter
an, doch das gibt ihr das Gefühl bevorstehender Weihnacht, also bläst sie die Kerzen wieder aus. Sie tanzt allein zu MTV,
überlegt, ob es eine Diskothek in der Nähe geben könnte. Sie besorgt sich ein Stadtmagazin, doch für die Eintrittspreise der
Frankfurter Nachtlokale kann man ohne weiteres ins Kino gehen.
Frau
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