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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Baronsky
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schließlich die Schultern gehoben und alles in ihre Jackentaschen
     gleiten lassen. Perlen vor die Säue, hat Wilhelmine gedacht und sie in Gedanken angespuckt.
    Es waren nicht die letzten, unzählige Male ist Wilhelmine auf Knien zur Kredenz gekrochen und hat wieder eingeräumt, was sie
     herausgerissen haben, bis sie irgendwann keine Kraft mehr fand und einfach alles liegenließ. Selbst der kleine Wecker war
     fort. »Ich hab keine Zeit mehr«, hat sie zu Elsemarie gesagt und wäre froh gewesen, wenn es tatsächlich so gewesen wäre.
    Wilhelmine greift nach der Butterstulle, beißt kräftig hinein, dann schiebt sie das Betttischchen auf Alberts Seite hinüber
     und rutscht tiefer unter die Decke. Sie spürt ihren Körper, schwer und kraftvoll fühlt er sich heute an. Jung beinahe. Das
     Weib wird keine Freude haben an der Uhr, das Löten der Schließe lohne nicht, hat der Uhrmacher gesagt, das Gliederband sei
     schließlich auch nicht mehr das beste. Aber vermutlich hat die Russin es gar nicht auf die Uhr abgesehen, vielleicht sind
     sie heute nur noch hinter dem Gold her, so wie sie es befingert hat. Angewidert verzieht Wilhelmine das Gesicht. Es sind Barbaren,
     nach wie vor, und sie sind an allem schuld. Ja. Natürlich sind sie das! Wenn doch nur der Fernseher dawäre, in Wilhelmines Alter ist es zu anstrengend, so viel nachzudenken. Sie muss nach dem Fernseher fragen, unbedingt. Was
     haben sie eigentlich früher ohne Fernseher gemacht? Ach, früher, im Meer. Damals, die Mutter. Gestrickt hat sie, unermüdlich,
     Jacken und Mützen und Pulswärmer, immer wieder Pulswärmer. In Blassrosa, damit man sie unter den Kleiderärmeln nicht sah,
     und dabei hat sie Gedichte vorgetragen, ja, jetzt fällt es Wilhelmine ein, wie ein Automat hat die Mutter Vers um Vers hergesagt,
     man musste ihr nur ein Stichwort geben. Das Abendlied.
Gott, lass uns dein Heil schauen. Auf nichts Vergängliches trauen, nicht Eitelkeit uns freun! Lass uns einfältig werden und
     vor dir hier auf Erden wie Kinder fromm und fröhlich sein.
    Und Schillers »Glocke«, so oft hat sie ganze Strophen daraus gesprochen, dass Wilhelmine sie in der Schule ohne weiteres wiederholen
     konnte. Den »Erlkönig«, natürlich, aber den hat Wilhelmine noch nie gemocht.
    Und Geschichten hat sie erzählt, die Mutter. Fromme Geschichten von der heiligen Veronika und dem heiligen Christophorus,
     doch die hat Wilhelmine vergessen. Sie ist seit Josefs Tod nicht mehr in die Kirche gegangen. Außer zu Taufen und Weihnachten,
     der Familie wegen, aber das zählt nicht, das waren keine Kirchgänge, das waren Amtshandlungen.
    Ach ja, die Mutter. Mit dem Messer hat sie ein Kreuz auf jeden Laib Brot gezeichnet, bevor sie ihn angeschnitten hat. Wilhelmine
     atmet tief ein, schließt die Augen, schwebt weiter durch dunkle Meerestiefen. So lange ist das jetzt her.

Am Donnerstagabend ruft Frau Hübner an. Sicherlich gebe es nichts Besonderes. Es klingt wie ein Befehl. Erst auf Jelisawetas
     Insistieren hinterlässt sie Anschrift und Telefonnummer des spanischen Hotels, in dem sie und ihr Mann sich aufhalten werden.
     »Aber nur im Notfall, Lisa, verstanden? Wenn etwas sein sollte, rufen Sie einfach Doktor Lobe an, der kommt sowieso einmal
     in der Woche.«
    Jelisaweta gibt dem Couchtisch einen Tritt. Sie weiß nicht, auf wen sie mehr Wut hat: auf Frau Hübner, die, ohne ein Wort
     über den Wochenenddienst zu verlieren, davon ausgeht, dass Jelisaweta die Tante auch am Sonntag versorgen wird, oder auf die
     Alte mit ihrem absurden Russenhass. Jelisaweta beißt kleine Fetzchen von ihrer Unterlippe ab und tritt an das große Fenster,
     das Frau Hennemann Blumenfenster nennt. Verwaiste Übertöpfe aus Messing und bemalter Keramik stehen auf der überbreiten Marmorbank,
     in einem steckt etwas Vertrocknetes, das möglicherweise einmal weiße Blüten gehabt hat. Die welken Reste knistern in ihren
     Fingern, so wie damals, zu Hause, in Mamas Fingern …
     
    Jelisaweta blickt durch die Glasschiebetür hinaus. Sie lässt sich nur ein Stück weit öffnen, man kann nicht einmal einen Stuhl
     hinausstellen. Das Ding klemmt, seit Jelisaweta denken kann, ein Dicker hätte die Wohnung nicht beziehen dürfen, er hätte
     sich schlicht nicht auf den Balkon quetschen können.
    Mama steht draußen und raucht eine Zigarette nach der anderen, die graue Anzugjacke schlackert um ihren knochigen Körper.
     Von innen sieht es aus, als sei derganze Balkon vollgequalmt, in Wirklichkeit ist bloß

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