Magnolienschlaf - Roman
Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem …
nein, nicht das, es muss ihr etwas anderes einfallen, etwas Heiteres, Kästner, Busch,
er hat den Knaben wohl in dem Arm, er fasst
ihn sicher, er hält ihn warm …
Mit stummen Lippenbewegungen spricht sie weiter, spricht Vers für Vers wie ein Gebet in die Stille hinein,
sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind, in dürren Blättern säuselt der Wind …
Wie ging es weiter? Noch einmal sagt sie die Zeile her, stockt, spürt den kalten Schweiß, der ihre Hände hält.
Bald beginnt es zu dämmern. Wilhelmines Brust wird eng. Mehr denn je fürchtet sie heute die Dämmerung, diese gnadenlose Zeit,
da der Tag nicht mehr trägt und die Nacht noch nicht greift. Eine Zwischenwelt, so grenzenlos, dass kein Gedanke darin Halt
findet. Früher hat ihr immer der Fernseher geholfen, der und ein Gläschen Portwein. Weißer Portwein muss es sein, schwer zu
kriegen und teuer, aber den hat sie im Schrank versteckt. Und es gibt niemanden, den sie bitten könnte, ihn zu holen. Sie
hat ihn in dem kleinen Delikatessenladen in der Altstadt gekauft. Ob sie da jemals wieder hinkommt? Seit sie aus dem Krankenhaus
entlassen ist, greift diese Dämmerstunde unbarmherzig nach ihr, doch bisher hat sie es immer geschafft, ganz tief in ihr Meer
zu tauchen, dorthin, wo sie sicher ist. Aber das Wort hat sich aufgebläht und lässt sie oben treiben, wie mit Schwimmflügeln.
Dort packt es sie und hält sie unbarmherzig fest. Wilhelmine liegt und starrt in das Abendgrauen.
Die Konturen verschwimmen. Wer hat das Mädchen geschickt? Diese Russin weiß alles. Dass sie eine Strafe ist, dessen ist Wilhelmine
sich jetzt sicher. Vielleicht ihre letzte? Jahre-, ach jahrzehntelang hat sie geglaubt, dass es allmählich gut sein müsse,
so alt, wie sie geworden ist. Schließlich war das Leben selbst ihr Strafe genug, seine Unausweichlichkeit, seine Zähigkeit;
es hat an ihr geklebt,ohne Gnade. Beständig hat sie auf ein Ende gehofft, doch so leicht wird eine wie sie das Leben nicht los. Damals, als sie
in die qualmenden Ruinen hineingelaufen ist und die Soldaten angeschrien hat, da hat sie es schon geahnt. Dass es so rasch
nicht zu Ende sein würde.
Und dann, später, in der Wohnung, auf ihrem Bett, an das sie sich geklammert hat, fest entschlossen, nie wieder aufzustehen,
einfach liegen zu bleiben, bis alles vorbei ist. Da war sie nahe dran, damals, war immer tiefer hinuntergetaucht, immer länger,
und vielleicht wäre alles gutgegangen, wenn nicht der Steppke von der Elsemarie Wenzel herumgeschnüffelt und schließlich seine
Mutter herbeigeholt hätte.
»Frau Hübner, um Jottes willen«, hat sie gerufen und versucht, ihr Wasser einzuflößen, dass es Wilhelmine kalt über das ganze
Gesicht gelaufen ist. »Nun machen Se schon den Mund auf, Se müssen was trinken, der Krieg is doch vorbei.«
Da hat Wilhelmine den Kopf geschüttelt, aber keiner hat es gesehen. Lasst mich, hat sie gedacht, der Krieg ist nicht vorbei,
nicht für mich, der hat gerade erst angefangen.
Sie sind dann mit dem Rest ihrer Habseligkeiten bei ihr eingezogen, die Elsemarie mit ihrem Sohn und ihrer Schwester, der
Teufel hat sie geschickt. Elsemarie hätte sicher behauptet, der Herrgott sei es gewesen, doch Wilhelmine hat da keinen Unterschied
mehr gemacht.
»Wir kriejen Se schon wieder hin«, hat Elsemarie gesagt, den Schutt von der kaputten Mauer runtergeschafft und ihr Lager im
Wohnzimmer aufgeschlagen. Vor das Loch zwischen den beiden Zimmern haben sie einenTeppich gehängt und darüber alte Küchenlappen, damit man den Teppich nicht sehen konnte. Gehört hat Wilhelmine trotzdem alles.
Alles. Den Steppke haben sie ins dritte Zimmer quartiert, die Matratzen aus dem Keller nach oben geholt. Wilhelmine hätte
schreien mögen, wenn sie es denn gekonnt hätte. Aber sich zu wehren, gegen irgendetwas, dazu hatte sie ja nun kein Recht mehr.
»Eene Hand wäscht die andre, Frau Hübner, nich wahr, jetzt müssen wir zusammenhalten. Wir kriejen Se schon wieder hoch, dit
wär doch jelacht. Herrjott, wie der Tod uff Latschen sehn Se aus, dass man Angst kricht.« Hafergrütze haben sie ihr gegeben
gegen den Hunger, den sie nicht hatte, tagelang Hafergrütze mit einem winzigen Stück Butter, die hatten sie noch irgendwo
im Keller versteckt. Wilhelmine hat es versucht, aber es ist alles wieder rausgekommen. So ein Körper, der lernt schnell.
Stundenweise ist Wilhelmine damals weggetaucht und flog, immer ein
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