Magnolienschlaf - Roman
Stückchen höher und weiter, dorthin an die Grenze, wo sie
das alles nichts mehr anging, aber das Leben ist zäh, und irgendwann lag sie doch wieder dort unten in ihrem halben Ehebett,
neben sich ein Loch, die zweite Matratze hatte die Elsemarie sich ins Wohnzimmer geschafft.
Lange hat es nicht gedauert, bis die schweren Stiefel die Treppe heraufgepoltert kamen. Auch zu ihr. Endlich, hat sie da gedacht.
War wie erlöst, endlich alles auf sich nehmen zu können. Laut gelacht hat sie, vor Erleichterung, aber es muss sich wie ein
Schrei angehört haben, denn die Elsemarie kam gleich angelaufen und hat geschnattert wie ein Huhn. »Finger weg! Krank, schwerkrank! Auszehrung. Verstehen?« Da haben sie die Decke wieder fallen lassen und die Stimmen gesenkt. Nichts war ihr vergönnt,
nicht der Tod und nicht die Sühne.
Ein jähes Geräusch lässt Wilhelmine herumfahren, jemand steht an der Tür, die Wirklichkeit schwappt in ihre Gedanken, und
für einen Moment verliert sie den Halt. Das Mädchen, wer sonst. Wilhelmine spürt ihr Herz, es pocht in ihren Ohren, als wolle
es sie an etwas erinnern.
»Also. Das geht doch.« Energisch stopft das Mädchen ihr die Kissen im Rücken fest und klappt den Betttisch auseinander. Aber
nein, das ist nicht irgendein Mädchen. Wilhelmine starrt in das rundlich-pralle Gesicht, auf den Schokoladenglanz der Locken,
spürt überdeutlich seine Nähe. Sie schrickt zusammen, als es unvermittelt vor ihrem Gesicht mit den Fingern schnippt.
»Buh!« Feindseligkeit liegt im Russenblick.
Ein Schrei entfährt ihr, zitternd verharrt sie noch, als die andere längst verschwunden ist.
Reglos bleibt sie sitzen, schiebt irgendwann das Tablett von sich. Ihr ist schlecht. Nur schlafen will sie, so wie damals,
nur schlafen und alles vergessen.
Jelisaweta sieht auf die Küchenuhr. Ob Mama zu Hause ist? Welchen Dienst hat sie diese Woche? Jelisaweta weiß es nicht mehr,
der Dienstplan, der sie seit beinahe zwei Jahren beherrscht wie ein Kalender, entgleitet ihr, eine Zeitrechnung, die nicht
mehr gilt. Sie nimmt das Telefon von der Dielentruhe und kauert sich auf das Wohnzimmersofa.
»Jelisaweta.« Mama klingt so heiser und matt, dass Jelisaweta den Anruf sofort bereut. Unmut steigt in ihr auf, obwohl sie
es eigentlich besser hätte wissen müssen.
»Alles in Ordnung, Mama?« Nur widerstrebend ringt sie sich diese Frage ab. Sie hat keine Lust, Mama aus ihrer Nebelwelt abzuholen,
bevor sich drei vernünftige Worte mit ihr reden lassen. Jelisaweta sieht sie vor sich sitzen, auf der grünen Couch in der
Küche, den Aschenbecher auf dem Schoß, das Telefon neben sich. Die Tür zum Flur muss weit offen bleiben, damit das Kabel bis
in die Küche reicht. Sie kann hören, wie Mama an der Zigarette zieht, den Qualm zwischen beinahe zusammengepressten Lippen
herausdrückt, dass es im Hörer rauscht.
»Nun sag schon, was los ist.« Sie ärgert sich über ihren eigenen, betulichen Tonfall, schüttelt sich, als ließe sich Fürsorge
abschütteln. Wie Eiswasser überfällt sie die Ahnung, sie könnte Babkas Geburtstag vergessen haben, Mamas heiligen Gedenktag,
doch der war im Herbst.
Mama holt Luft, sagt aber nichts.
»Mama …«
»Wie kannst du so etwas nur tun, Jelisaweta?« Ihre Stimme kippt.
»Ich hab das gar nicht …« Jelisaweta hält inne. Unsinn. Mama kann das mit dem Schmuck nicht wissen. Außerdem hat Jelisaweta
es überhaupt nicht ernst gemeint. Dennoch bleibt ein Gefühl von Unwirklichkeit, als müsse sie jeden Moment erwachen.
Mama schluchzt auf. Jelisaweta weiß, dass sie die Zigarette jetzt im Ascher geparkt hat, sich mit der freien Hand die Brauen
knetet, als wolle sie sich das Gesicht wie einen Lappen vom Schädel reißen.
»Jetzt hör auf, ich weiß gar nicht, warum du heulst!«
»Dass du mir so eine Schande machen musst.« Wieder jagt sie ihr heiseres Schluchzen durch die Leitung. »Wenn das Babka wüsste
…«
»Wenn Babka was wüsste, verdammt noch mal?« Jelisaweta hat große Lust, aufzulegen. Fehler in der Leitung, könnte sie später
sagen. »Mein Gott, Mama, jetzt reiß dich zusammen!«
Schweigen. Mama wimmert von neuem los, Jelisaweta kann noch hören, wie sie die Nase hochzieht. Es ist Mama, die schließlich
den Hörer auflegt.
Zitternd kauert Jelisaweta auf dem Sofa und starrt das Telefon an, bis das Licht im Display erlischt. Dann packt sie eines
der senfgelb geblümten Leinenkissen, beißt in den rauen Stoff und wartet, dass die
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