Magnus Jonson 01 - Fluch
änderte sich alles. Sein Vater zog fort, um an einer Universität in Amerika Mathematik zu unterrichten. Seine Mutter wurde missmutig und müde – sie schlief den ganzen Tag, bekam ein aufgedunsenes Gesicht, wurde dick und schrie Magnus und seinen kleinen Bruder Óli ständig an.
Die drei zogen nach Akureyri, ein Ort im Norden des Landes, aus dem die Mutter stammte. Dort wurde alles noch schlimmer. Magnus merkte, dass seine Mutter nicht ständig müde war, sondern betrunken. Erfolglos versuchte sie, verschiedene Arbeitsstellen zu halten, zuerst als Lehrerin, später hier und dort als Kassiererin. Am schlimmsten war, dass sie Magnus und Óli lange Zeit in der Obhut der Großeltern ließ. Der Großvater, ein ehemaliger Fischer, war ein strenger, übellauniger, furchteinflößender Mann, der sich selbst gern ein Glas gönnte. Die Großmutter war klein und niederträchtig.
Eines Tages, als Magnus und Óli in der Schule waren, trank ihre Mutter eine halbe Flasche Wodka, stieg ins Auto und fuhr damit frontal in einen entgegenkommenden Wagen, in dem Mutter und Tochter saßen. Alle drei starben. Ragnar kam zurück und nahm nach einer Woche voller Bitterkeit beide Kinder mit sich nach Boston.
Einmal im Jahr kehrte Magnus in den Ferien mit seinem Vater und Óli nach Island zurück, um im Grünen zu zelten, ein paar Tage in Reykjavík zu verbringen und um seine Großmutter väterlicherseits und die Freunde und Kollegen seines Vaters zu besuchen. Sie waren nie wieder in Akureyri oder bei der Familie seiner Mutter gewesen.
Diesen Besuch holte Magnus erst einen Monat nach dem Tod seines Vaters nach. Er fuhr dorthin, um sich eventuell mit den Verwandten zu versöhnen. Der Besuch war eine vollkommene Katastrophe. Die aggressive Feindseligkeit seiner Großeltern überraschteMagnus. Und ihm wurde schmerzhaft bewusst: Sie hassten nicht nur seinen Vater; sie hassten auch ihn. Einen Waisen, dessen einziger Verwandter ein verwirrter Bruder war.
Danach war er nie wieder zurückgekehrt.
Keine hundert Meter über dem Boden flog die Maschine durch die Wolken. Island war kalt, grau und windgepeitscht. Links sah Magnus ein graubraunes Feld vulkanischen Gesteins, überzogen mit rostrotem und grünem Moos, dahinter die Überbleibsel des verlassenen amerikanischen Luftwaffenstützpunkts: flache Baracken, mysteriöse Funkmasten und Golfbälle auf Pfählen. Nirgendwo ein Baum in Sicht.
Das Flugzeug setzte auf und rollte hinüber zur Abfertigung. Unglaublich freundliches Bodenpersonal kämpfte sich lachend und plaudernd nach draußen in den Wind, während eine Regenwand über die Piste auf die Passagiere zugerollt kam. Es war der 24. April, ein Tag nach dem offiziellen Sommeranfang in Island.
Dreißig Minuten später saß Magnus im Fond eines weißen Wagens, der über die Autobahn von Keflavík nach Reykjavík preschte. Außen trug das Fahrzeug die Aufschrift Lögreglan – mit der ihm eigenen Störrigkeit war Island eines der wenigen Länder in der Welt, die sich weigerten, eine Ableitung des Wortes »Polizei« für seine Gesetzeshüter zu verwenden.
Der Regenschauer war abgezogen, der Wind schien sich zu legen. Die Vulkanlandschaft aus wellenförmigen Felshügeln, Gesteinsbrocken und Moos erstreckte sich bis zu einer Kette gedrungener Berge in der Ferne, und noch immer war kein Baum zu sehen. Selbst nach Jahrtausenden hatte sich dieser Teil Islands nicht von der zerstörenden Wucht eines gewaltigen Vulkanausbruchs erholt. Die dünne Moosschicht auf dem Gestein war nur der zarte Beginn des Heilungsprozesses, der ebenfalls Jahrtausende dauern würde.
Doch Magnus achtete nicht auf die Umgebung. Er konzentrierte sich auf den Mann neben sich, Snorri Gudmundsson, den NationalenPolizeichef. Er war ein kleiner Herr mit klugen blauen Au gen und dichtem grauem Haar, das zu einer Tolle nach hinten gekämmt war. Gudmundsson sprach ein schnelles Isländisch, Magnus musste sich aufs äußerste konzentrieren, um ihm folgen zu können.
»Wie du sicherlich weißt, hat Island eine niedrige Mordrate und einen geringen Prozentsatz an Schwerverbrechen«, erklärte er. »Bis zum letzten Jahr bestand der Großteil der Polizeiarbeit darin, samstag- und sonntagmorgens wieder Ordnung zu schaffen, nachdem die Partygänger ihren Spaß gehabt hatten. In letzter Zeit gab es jede Woche eine regierungskritische Demonstration wegen der kreppa .«
Kreppa war das isländische Wort für die Finanzkrise, die das Land besonders hart getroffen hatte. Die Banken, die
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