Magnus Jonson 01 - Fluch
gefunden, in einem Ferienhaus am Þingvellir-See. Und mir wurde gesagt, einer der ersten Verdächtigen sei ein Amerikaner. Ich bringe dich dorthin.«
Der Flughafen Keflavík lag auf der Spitze einer Landzunge, die sich westlich von Reykjavík in den Atlantik erstreckte. Sie fuhren nach Osten, durch ein Gewirr von Autobahnen und grauen Vororten im Süden der Hauptstadt, gesäumt von kleinen Fabriken, Lagerhäusern und vertrauten Fast-Food-Ketten: Kentucky Fried Chicken, Taco Bell und Subway. Deprimierend.
Auf der linken Seite sah Magnus die bunten Metalldächer der Häuschen in der Innenstadt von Reykjavík, überragt vom Kirchturmder Hallgrímskirkja, Islands größtem Gotteshaus, das sich auf einer kleinen Anhöhe erhob. Hier gab es keine Trauben von Wolkenkratzern, wie sie die Zentren selbst kleiner Städte in Amerika dominierten. Jenseits der Stadt war die Faxaflói-Bucht und dahinter der breite Fuß von Esja, einem beeindruckenden Felsrücken, der bis in die tiefhängenden Wolken reichte.
Durch trostlose Vororte voller unansehnlicher Mietskasernen fuhren sie in den Osten der Stadt. Esja vor ihnen wurde immer größer, bis sie sich von der Bucht entfernten und zur Hochebene von Mosfell hinauffuhren. Hier standen keine Häuser mehr, hier sah man nur noch gelbes Gras und grünes Moos, wuchtige runde Hügel und dunkel dahinjagende Wolken.
Nach rund zwanzig Minuten ging es wieder abwärts, und Magnus erblickte vor sich den Þingvellir-See. Als Junge war er mehrmals dort gewesen, hatte Þingvellir selbst besucht, eine große grasbewachsene Fläche entlang einem Graben am nördlichen Seeufer. In Þingvellir teilten die amerikanische und die europäische Kontinentalplatte Island in zwei Hälften. Wichtiger noch für Magnus und seinen Vater war, dass dort der bewegende Schauplatz des Althing war, zu Zeiten der Sagas die gesetzgebende Versammlung von Island.
Magnus hatte den See in einem wunderschönen Dunkelblau in Erinnerung. Jetzt erstreckte er sich düster und unheimlich vor ihm, die Wolken hingen so tief, dass sie das schwarze Wasser fast berührten. Selbst der Rücken einer kleinen Insel in der Mitte des Sees lag unter einem Schleier feuchtschwerer Luft.
Sie bogen von der Hauptstraße ab und fuhren, vorbei an einem großen Bauernhof mit grasenden Pferden auf den Weiden, bis hinunter an den See. Dann folgten sie einem steinernen Weg zu einem halben Dutzend Ferienhäusern im Schutze von mehreren Birken, die noch kein Laub trugen. Die einzigen Bäume, die zu sehen waren. Magnus erblickte die vertrauten Zeichen eines frisch eingerichteten Tatorts: kreuz und quer geparkte Streifenwagen, einige noch unnötig blinkende Blaulichter, ein Krankenwagen mit geöffnetenHecktüren, im Wind flatterndes gelbes Absperrband und umhereilende Gestalten in dunklen Polizeiuniformen oder den weißen Overalls der Spurensicherung.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand das fünfte Haus am Ende der Reihe. Magnus musterte die anderen Ferienhäuser. Es war noch früh in der Saison, sodass nur eines, nämlich das zweite, bewohnt war. Ein Range Rover parkte davor.
Der Streifenwagen hielt neben dem Krankenwagen, und der Polizeichef und Magnus stiegen aus. Die Luft war kalt und feucht. Magnus hörte das Rauschen des Windes und einen unheimlichen Vogelruf, den er noch aus seiner Kindheit kannte. Ein Brachvogel?
Ein großer Mann mit schütterem Haar und langem Gesicht kam auf sie zu. Er trug ebenfalls einen Overall.
»Darf ich dir Inspektor Baldur Jakobsson von der Mordkommission der Polizei Reykjavík vorstellen?«, sagte der Polizeichef. »Er leitet diese Ermittlung. Der Þingvellir-See gehört eigentlich zum Bereich der Polizei von Selfoss, südlich von hier, aber als klar wurde, dass es sich möglicherweise um eine Mordermittlung handelt, baten mich die Kollegen in Selfoss, Unterstützung aus Reykjavík zu besorgen. Baldur, das ist Sergeant Detective Magnús Jonson vom Boston Police Department«, sagte er, hielt inne und schaute Magnus fragend an. »Jonson?«
»Ragnarsson«, korrigierte Magnus.
Der Polizeichef lachte, erfreut, dass Magnus zu seinem isländischen Namen zurückgefunden hatte. »Ragnarsson.«
»Good afternoon«, sagte Baldur förmlich. Sein zögerliches Englisch hatte einen starken Akzent.
»Góðan daginn« , erwiderte Magnus.
»Baldur, kannst du Magnus erklären, was hier passiert ist?«
»Aber sicher«, sagte Baldur, ohne dass er seine schmalen Lippen zu einem Lächeln oder einem anderen Zeichen von Begeisterung
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