Magyria 01 - Das Herz des Schattens
und auch dich … Aber gleich dahinter ist die Dunkelheit.«
»Was hat er dir angetan?«, fragte Mattim untröstlich.
»Das ist seine Seele«, sagte Hanna. »Ich glaube, er hat mir seine Seele gezeigt.«
»Aber …« Da fiel ihm etwas anderes ein, und er sagte: »Du erinnerst dich, dass es Kunun war? Dass er es war und nicht ich? Wie kannst du das wissen? So, wie du aus dem Fahrstuhl gekommen bist, hat er dir wesentlich mehr weggenommen als eine Viertelstunde.«
Irritiert runzelte Hanna die Stirn. »Keine Ahnung … Ich spüre es.« Sie horchte in sich hinein. »Du hinterlässt irgendwie ein anderes Gefühl. Diesmal ist es wie ein fremder Geruch, wie die Spuren eines fremden Tieres im Schnee … Das hört sich unsinnig an, oder?«
»Wir müssen aussteigen.« Er bot ihr den Arm, und sie ging mit staksigen Schritten neben ihm her. Erst als ihnen oben der kalte Wind entgegenschlug, ließ sie ihn los, hielt ihr Gesicht unter das Grau des Himmels und atmete tief ein. »Fühlst du dich sehr schwach?«, erkundigte er sich besorgt.
»Es geht. Wir müssen noch ein Stück mit dem Bus fahren. Attila wird sich wundern, dass ich nicht mit dem Auto komme. Ich habe das Gefühl, er wird mich umwerfen, wenn er auf mich zugelaufen kommt.« Sie lächelte, ganz ihr altes Lächeln, als wäre sie nicht von einer Dunkelheit berührt worden, von deren Existenz sie nichts geahnt hatte.
»Ich werde mich hinter dich stellen. Dann kann er dich nicht umrennen.«
Er rechnete halb damit, dass sie versuchen würde, ihn nach Hause zu schicken und vorgeben würde, stark genug zu sein für ihre Pflichten. Aber sie sagte nicht, dass sie nun alleine klarkommen würde. Zusammen erwarteten sie den Jungen vor der Schule, zusammen fuhren sie zu den Szigethys
nach Hause, und obwohl Mattim nicht die geringste Ahnung vom Kochen hatte, konnte er zumindest Hannas Anweisungen durchführen, den Kochtopf mit Wasser füllen, Herdplatten einschalten und Teller auf den Tisch stellen.
Attila brauchte nicht viel, um glücklich zu sein. Er fand die Unterbrechung in der normalen Routine aufregend, stopfte die Nudeln in sich hinein, ohne auch nur eine Sekunde mit dem Reden aufzuhören, und beobachtete fasziniert, wie Mattim zum ersten Mal in seinem Leben Spaghetti aß und mit dem Besteck kämpfte.
»Er kann das nicht«, urteilte der Junge so gnadenlos wie zufrieden. »Er hält die Gabel total falsch.«
Mattim genoss den ungewohnten Geschmack auf der Zunge. Kunun wollte ihn dazu bringen, mit dem Essen aufzuhören; genau deswegen war es so großartig, es zu tun. Zu kauen und zu schlucken, als könnte man verhungern, als könnte man sterben, wenn man nicht täglich irgendetwas zu sich nahm. Als könnte dieses Essen die Leere füllen, die er in seiner Brust verspürte, den kalten, unbeweglichen Stein, der hinter seinen Rippen wohnte.
Nach dem Essen legte Hanna sich hin, und Mattim konnte Attila dazu bewegen, ihm zu zeigen, wie man das Geschirr abwusch. Auch die Hausaufgaben machten viel mehr Spaß, wenn ein Großer dabei war, der ständig dumme Fragen stellte und dieselben Aufgaben auf ein Blatt Papier kritzelte.
Irgendwann kam Réka und zog die Brauen hoch, als sie Mattim im Wohnzimmer auf dem Teppich liegen sah, Attila auf dem Rücken.
»Was macht der denn hier?« Sie musterte den Prinzen aus zusammengekniffenen Augen, so kritisch, als müsste er gleich eine Prüfung ablegen. »Du bist der Junge auf dem Foto! Du bist - Hannas Freund?«
Hanna tauchte im Türrahmen auf. Sie sah wieder etwas erholter aus. »Szia. Auch wieder da?«
»Mama kommt gleich«, sagte Réka. »Vielleicht sollte der da lieber gehen.«
Mattim wechselte einen Blick mit seiner Freundin und sprang trotz Attilas Protesten auf. »Natürlich. Ich will nicht, dass du Ärger bekommst.«
Es hörte sich so einfach an, aber es war ihm nahezu unmöglich, zur Tür zu gehen und sich zu verabschieden, es erforderte eine übermenschliche Kraft, Hanna zum Abschied nicht zu küssen. Réka stand daneben und starrte die beiden unentwegt an. Es war, als würde sie ihn mit ihren Augen hinauswischen wie ein Flöckchen Staub.
»Hast du heute Abend frei?«, fragte er.
Hanna nickte. »Ich werde dich finden.«
»Nein, das wirst du nicht.« Es fiel ihm schwer, das zu sagen und sie daran zu erinnern, was passiert war.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu, sodass sie ganz nah vor ihm stand. »Jeden Abend stehe ich oben an der Burg und blicke auf den Fluss und die Stadt hinunter … Schon vergessen? Wenn man
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