Magyria 01 - Das Herz des Schattens
ab. Es fiel ihr nicht einmal schwer. Nun, da sie die Furcht abgestreift hatte, schien alles möglich. Sie dachte nicht mehr an Mattim, der verzweifelt auf der anderen Seite der Glaswand schrie. Kunun beugte sich zu ihr, und in diesem Moment waren sie einander ebenbürtig. Sie war nicht mehr klein und unscheinbar und hilflos, sondern schön und stolz und aufrecht. Vielleicht gehörte auch das zu Kununs Zauber. Einem Mädchen das Gefühl zu geben, eine Frau zu sein, unwiderstehlich und königlich, doch falls das so war, dann war er selbst schuld.
»Zeig mir Magyria«, flüsterte sie. »Zeig mir das Land, dessen König du bist.«
»Mattim hat dir gesagt, ich sei der König von Magyria?«
Kunun hatte eine Schwachstelle! Sie hatte es gewusst, seit sie ihn an jenem Tag am Ufer der Donau gesehen hatte, einen hübschen Kerl mit machohaftem Getue. Er war nicht anders als jeder andere dieser schönen jungen Männer, die sich allzu viel auf ihre wundersame Anziehungskraft einbildeten. Wahrscheinlich merkte er es nicht einmal, wenn sie so übertrieb, dass man, wenn sie Pinocchio gewesen wäre, ihre Nase zum Stabhochsprung hätte benutzen können.
»Zeig mir dein Reich«, hauchte sie.
Er schaute sie an mit einem Blick, der dunkle Fäden um ihre Seele spann. Forschend. Auf eine Weise interessiert, die ihr fast die Beine wegriss, sodass sie sich unwillkürlich an seinem Mantel festhalten wollte. Sie wagte es nicht. Es war, als würde die geringste Bewegung sie in die Arme eines Mannes treiben, den sie verabscheute und fürchtete. Nie, niemals könnte sie Kunun begehrenswert finden, niemals
würde sie verstehen, was Réka an ihm fand, niemals würde sie auch nur auf die Idee kommen, seinetwegen den blonden Jungen zu vergessen, der irgendwo da draußen jammerte …
Kunun drehte sich um und drückte die Tasten. Sie beobachtete ihn dabei, und ihr Herz, das fast stehengeblieben wäre, als er so dicht vor ihr stand, schlug wieder schneller. Jetzt! Wenn es ihr gelang, jetzt zu entkommen! Doch sie hatte das hier angefangen, nun musste sie es auch bis zum Ende durchziehen.
Der Fahrstuhl ruckte kurz und glitt dann hinunter in die Dunkelheit. Hinter der Scheibe erkannte man die graue Wand, von Kabeln durchzogen. Kunun öffnete die Tür und führte sie in einen Kellerraum mit niedriger Decke. Falls sie hier etwas Besonderes erwartet hatte, wurde sie enttäuscht. Wie jeder gewöhnliche Keller war auch dieser kühl und ungemütlich, wozu das trübe Deckenlicht zusätzlich beitrug. Hohe, mit unzähligen Flaschen bestückte Weinregale bedeckten die Wände.
»Du trinkst Wein?«, fragte sie.
»Meine Fähigkeit zu schmecken, ist ausgeprägter, als du dir vorstellen kannst«, erklärte Kunun. »Und jetzt nimm meine Hand.«
Sie tat es. Diesmal erlaubte sie sich nicht, Angst zu haben, als er ihre Finger mit festem Griff umschloss. Wie ein Vater, der sein Kind führt , dachte sie, wollte sie denken, nur fühlte es sich ganz und gar nicht so an. Es war eine Geste der Vertrautheit, wie zwischen Liebenden, als sie Hand in Hand durch den Mauerdurchbruch schritten, in den nächsten Raum, in dem sie niemals ankamen. Stattdessen war das Licht plötzlich verschwunden. Die beiden standen im Dunkeln, in einer Finsternis, in die sie hineinfielen wie in ein Loch, wie ins Nichts. Hanna schrie kurz auf. Der Griff um ihre Hand wurde stärker.
»Ich bin da«, hörte sie Kununs Stimme.
»Wo sind wir?« Sie standen nicht mehr im Keller. Die Luft roch anders, nicht mehr feucht und abgestanden. Von irgendwoher kam ein Luftzug. Irgendwo dort begann das Dunkel sich ganz wenig in Grau zu verwandeln, während ihre Augen sich an die Lichtlosigkeit gewöhnten. Sie mussten in der Höhle sein, von der Mattim gesprochen hatte, aber es fiel ihr in diesem Moment schwer, an eine Höhle zu glauben oder an Magyria oder an irgendetwas. Hanna fühlte sich, als wäre sie mit Kunun in die Dunkelheit gesprungen, in eine sternlose Nacht, in der alles andere aufgehört hatte zu existieren.
»Das ist Magyria«, sagte seine Stimme, eine Stimme, weich und samtiger als die übrige Finsternis, als wäre sie dort, wo er stand, noch dichter und voller als überall sonst. »Mein Magyria.«
Sein Atem war nicht zu spüren. Nur seine Lippen, die über ihren Hals glitten.
»Meine liebe Hanna. Glaubst du, ich wüsste nicht, warum du all das tust? Glaubst du wirklich, du könntest Macht über mich ausüben?«
Er wusste es. Wie dumm war sie gewesen, zu glauben, sie könnte ihn
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