Magyria 01 - Das Herz des Schattens
nicht da. Bestimmt hatte er ihr zeigen wollen, dass er schneller war als der Lift! Als die Tür im Erdgeschoss aufglitt, stand sie Kunun gegenüber. Kunun, den sie nun zum zweiten Mal nach der Begegnung auf dem Schulhof überrascht erlebte. Dann lächelte er, zog leicht die Brauen hoch und trat in die Kabine. Seine Hand ging zu den Tasten, doch anstatt einen Knopf zu drücken, berührte er nur die Stopp-Taste. Sie fuhren nicht an. Die Tür schloss sich.
Durch die Glaswand konnte sie Mattim erkennen, der im Hof stand und fassungslos zu ihnen herüberstarrte. Hanna schluckte. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um nicht vor Kunun zurückzuweichen, um sich nicht bis in die hinterste Ecke zu retten und dort heulend auf den Boden zu rutschen. In diesem winzigen Raum gab es keine Fluchtmöglichkeit. Nur sie und Kunun. Seine Gegenwart füllte alles aus. Er musste nur dastehen, vor ihr, und schon wurde sie klein. Klein und hilflos. Seine dunkle Schönheit bewirkte, dass sie sich armselig und hässlich fühlte.
»Hanna«, sagte er schließlich. »Hatte ich dir nicht gesagt, du solltest dich von diesem Haus fernhalten? Ich dachte, ich hätte es deutlich genug gemacht.«
Sie öffnete den Mund und brachte keinen Ton heraus.
»Sollte Mattim dich nicht beißen?«, fragte er weiter. »Er war doch nicht etwa ungehorsam?«
Seine Frage nach Mattim brachte Hanna wieder einigermaßen zur Besinnung. »Und ob«, sagte sie. »Das hat er - glaube ich.«
»Tatsächlich?« Kunun trat einen Schritt auf sie zu, sodass er nun direkt vor ihr stand. Er streckte die Hand aus und zog langsam, geradezu zärtlich, an ihrem neuen Schal. Er ließ ihn zu Boden fallen und schob mit beiden Händen ihr Haar zurück, damit ihr Hals frei war. Seine Bewegungen, so sanft und behutsam wie die eines aufmerksamen Liebhabers, ließen ihre Beine zittern. Kühl und glatt, als trüge er Seidenhandschuhe, tastete er mit den Fingern über ihren Hals.
»Diese Wunden sind nicht neu«, sagte Kunun leise, so nah an ihrem Ohr, dass sie fühlen konnte, er atmete nicht. »Was habt ihr getan, meine Liebe, in meinem Haus?«
Im Hof war Mattim wild am Gestikulieren.
»Ich habe ihn gesucht«, flüsterte sie, »ich kann ihn immer finden. Ich habe keine Ahnung, was wir getan haben. Erst war ich bei ihm, und auf einmal war ich hier im Fahrstuhl.
Gerade wollte ich nach Hause fahren. Ich muss mich beeilen, sonst machen meine Gasteltern sich Sorgen und suchen nach mir.« Sie schob ihren Ärmel herunter. »Ist das eine neue Wunde? Was bedeutet es?«
Mit festem Griff packte Kunun ihr Handgelenk und betrachtete die Stelle, an der Mattim sie gebissen hatte. Als er ihren Arm an seine Lippen hob, zuckte sie instinktiv zurück, aber er hauchte nur einen Kuss auf ihre weiße Haut.
»Du frierst«, stellte er fest.
»Kunun!« Sie hörten Mattims Schreie von draußen. »Lass sie gehen! Kunun! Hanna! Hanna!«
»Ja«, sagte sie, »ja, bitte, ich muss jetzt nach Hause, ich werde auch nicht wiederkommen, sondern …«
»Hast du Angst vor mir?«, fragte der Vampir. Er ignorierte Mattims Wüten. Wieder war sein Gesicht so nah vor ihr, und sie blickte ihm direkt in die schwarzen Augen.
»Nein«, flüsterte sie. Ihr Körper sagte etwas anderes. Er zitterte und bebte und wollte entkommen, wollte sich herumwerfen und losrennen, nur rennen, so schnell, als gelte es das Leben. Doch sie war mehr als dieses Zittern und Beben, und sie trat nicht einmal den halben Schritt zurück, der sie noch von der Glaswand trennte. Sie tat ihm nicht den Gefallen, auch nur einen Zentimeter zurückzuweichen.
»Das ist gut«, sagte Kunun. »Denn ich werde dich jetzt beißen. Ich werde dich vergessen lassen, dass du heute in diesem Haus warst. Ich werde dich vergessen lassen, dass du mich hier gesehen hast, und alles, was Mattim dir gesagt hat.«
Hanna blickte ihm in die Augen, die wie die spiegelnden Scheiben eines dunklen Hauses waren. Ich werde nicht betteln, dachte sie. Ganz bestimmt nicht. Ich bin keine Beute und auch kein Opfer. Mattim hatte es gesagt, und in jenem Augenblick hatte sie nicht wirklich begriffen, was es bedeutete. Jetzt erst verstand sie es. Ich bin kein Opfer.
» Beiß mich ruhig«, sagte sie. »Seit du es damals an der
Schule fast getan hättest, warte ich darauf, dass du es endlich tust. Nicht Mattim. Du. Und dann werde ich dich finden, wenn ich durch Budapest streife. Nicht Mattim, sondern dich.«
Der Vampir versuchte, in ihren Augen die Lüge zu entdecken. Aber Hanna wandte den Blick nicht
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